Als Russland die Ukraine im Februar 2022 überfällt, verändert sich das Leben von Oksana Hela auf einen Schlag. Die Historikerin aus Charkiw kommt über Umwege in die Schweiz, wo sie nun seit Frühling an der Universität Basel doktoriert. Nachdem die bisherigen Artikel unserer Serie zu schweizerisch-ukrainischen Beziehungen von Schweizer*innen verfasst wurden, soll im vierten und letzten Teil eine genuin ukrainische Sichtweise zum Zuge kommen. Oksana Hela erzählt, unter welchen Umständen sie in die Schweiz gelangt ist und wie sie ihre neue Heimat bis jetzt erlebt. Von Oksana Hela
Mein Name ist Oksana Hela. Ich bin 27 Jahre alt. Ich bin in Charkiw geboren, wo ich mein ganzes Leben lang lebte. Ich schloss mein Studium an der Fakultät für Geschichte der V. N. Karazin Kharkiv National University mit Auszeichnung ab und blieb für meine höheren Fachsemester dort. Nun bin ich für vier Jahre Doktorandin. Seit 2018 arbeitete ich an der V.V. Dokuchaev Kharkiv National Agrarian University als Assistentin und gab für Studienbeginner Seminare zur Geschichte der Ukraine.
Ankunft
Am 24. Februar dieses Jahres änderte sich mein Leben komplett. Es dauerte drei Tage, bis ich in der Schweiz war. Um von der Region Poltawa, wo meine Familie und ich uns vor dem Krieg versteckten, nach Basel zu kommen, musste ich mehrere Verkehrsmittel nutzen: Zug, Shuttle-Bus, Flugzeug und eine Vielzahl öffentlicher Verkehrsmittel – Busse, Trolleybusse, Strassenbahnen. Am 21. April 2022 bin ich in Basel angekommen und wurde als Flüchtling registriert. Deshalb habe ich, während ich hier bin, den Schutzstatus S.
Glücklicherweise erhielt ich von der Universität Basel, der Schweizer Regierung und dem Kanton Basel-Stadt volle Unterstützung. Die Schweiz nimmt bereitwillig Flüchtlinge auf: Als ich am Flughafen Basel ankam, wurden alle Ukrainer*innen in einer separaten Warteschlange bedient. An den Bahnhöfen sah ich über lange Zeit immer wieder Freiwillige mit einem Schild «Ukraine» auf neue Flüchtlinge warten. Basel-Stadt wiederum erlaubte es mir, hier zu bleiben, weil ich schon eine Wohnung hatte und vielleicht auch, weil damals noch nicht so viel los war. Die Universität hat mir alles gegeben, was ich brauchte: von finanzieller Unterstützung bis zur Wohnungssuche, Hilfe beim Papierkram, einen Arbeitsplatz, Deutschkurse an der Universität. Auch das Team der Geschichtsabteilung ist immer mit mir in Kontakt und steht mir bei allen Fragen zur Verfügung. Dafür möchte ich meine tiefe Dankbarkeit aussprechen.
Erfahrungen mit der Universität Basel
Das Thema meiner Dissertation ist «Bilder der Intelligentsia in der sowjetischen visuellen Kultur» (mit Material aus satirischen Publikationen). Das Forschungsgebiet liegt an der Grenze verschiedener Disziplinen – Geschichte, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft, Soziologie. Die Studie konzentriert sich auf Karikaturen aus der Parteipresse, die unter anderem ein Werkzeug für den Aufbau einer «neuen, sowjetischen Intelligentsia» waren.
Meiner Meinung nach ist die Universität Basel ein Zentrum schweizerischer und vor allem europäischer Bildung. Studierende und Graduierte werden hier auf hohem methodischem Niveau unterrichtet. Obwohl sie die älteste Universität der Schweiz ist, scheint sie sehr modern zu sein: Sowohl bezüglich den Räumlichkeiten als auch der Einstellung derer, die hier lehren und studieren.
Auf der Arbeit stehe ich in ständigem Kontakt mit ukrainischen Wissenschaftler*innen. Ich besuche regelmässig Deutschkurse, wo ich zusammen mit anderen Ukrainer*innen lerne, auf meinen Reisen traf ich eine wunderbare Familie aus Charkiw, aber vor allem erfahre ich Neuigkeiten aus sozialen Netzwerken. Auf Facebook gibt es eine Vielzahl von Gruppen für Ukrainer*innen in der Schweiz/Basel, von denen ich einigen persönlich folge.
Apropos akademisches Leben, ich wusste wenig über das schweizerische Hochschulsystem. Ich wusste aber, dass die Schweizer Universitäten zu den besten der Welt gehören. Allgemeiner gesehen, kannte ich es als ein bergiges Land mit unglaublicher Natur und Landschaft. Andere Fakten über die Schweiz: köstliche Schokolade und Käse, Nestlé-Produkte – kennen nicht nur Ukrainer*innen, sondern sind weltweit bekannt.
Erfahrungen mit Schweizer*innen
Was waren meine Erwartungen, als ich in der Schweiz angekommen bin? So beängstigend es klingt, eine meiner Haupterwartungen an die Schweiz damals, im April dieses Jahres, waren Schutz und Ruhe. Diese wichtigen Kleinigkeiten durfte ich in der Schweiz erfahren.
Im Umgang mit Schweizerinnen und Schweizern bekomme ich regelmässig den Eindruck von unglaublicher Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit. Wenn ich mit den Schweizern über den Krieg spreche, bekomme ich immer Rückmeldungen in Form von Worten der Unterstützung, des Mitgefühls und der Anteilnahme. Besonders viele Unterstützung bekomme ich von Kolleginn*en, die regelmässig das Geschehen in der Ukraine verfolgen und ihre Gedanken in den sozialen Medien posten.
Das ist alles herzerwärmend, aber wir sollten nicht vergessen, dass der Krieg noch nicht vorbei ist. Er ist sehr nah, hier in Europa – nur zwei Länder östlicher der Schweiz – Deutschland und Polen bzw. Österreich und Slowakei / Ungarn. Und das im 21. Jahrhundert, wo es scheint, als ob alle Konflikte mit anderen Mitteln als Krieg gelöst werden könnten. Daher ist mit einem weiteren Flüchtlingsstrom zu rechnen. Deshalb ist es die Hauptaufgabe der europäischen Staaten, Kriegsflüchtlinge weiterhin zu unterstützen und ihnen einen vorübergehenden Schutzstatus zu gewähren. Mir scheint, die Schweiz gehört zu jenen europäischen Staaten, die sehr intelligent über den Schutz von Flüchtlingen nachgedacht haben. Leider ist dieser Schutz nur vorübergehend. Und da der Krieg, nach Meinung von Experten, sich über weitere Monate oder sogar Jahre hinziehen wird, sollte die Möglichkeit des weiteren Schutzes und Integration der ukrainischen Flüchtlinge in Betracht gezogen werden.
Dieser Text wurde ursprünglich auf Englisch verfasst. Übersetzung: Anniina Maurer & Florian Zoller
Titelbild: Oksana Hela
Artikelserie: Schweizerisch-ukrainische Beziehungen
– Ein Schweizer allein in der Ukraine
– Ukrainer*innen in der Schweiz
– «Die Ukraine hat ein riesiges Potenzial»
– Die Schweiz aus Sicht einer Ukrainerin