Der Zufall wollte es, dass ich die drei ukrainischen Städte Lwiw, Kyiv und Odessa noch im März 2020 besuchte. In diesen zehn Tagen habe ich viel über Geschichte, Kultur und Menschen der Ukraine gelernt. Hier sollen ein paar dieser Eindrücke wiedergegeben werden. Von Florian Zoller
Ursprünglich wäre hier ein Artikel Anfang 2022 erschienen, der als eine Art Städteguide hätte fungieren sollen. Stattdessen wird dieser Text nun als erster Teil einer Artikelserie zum Themenblock «Schweiz und Ukraine» veröffentlicht. In diesem ersten Artikel steht die Frage im Vordergrund, warum ich als Schweizer in die Ukraine reiste und was ich dort alles erlebte. Es folgt ein kurzer Abriss über die Geschichte der besuchten Orte, persönliche Beobachtungen sowie ein aus dem Austausch mit 10-15 Personen entstandenes Stimmungsbild gegenüber Russland – Unvollständigkeit ist garantiert.
Vorbereitung
Was assoziieren wir mit der Ukraine? Bestimmt den russischen Angriffskrieg seit Februar 2022, vielleicht auch noch die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl anno 1986. Erst solch negative Ereignisse haben die Ukraine auf die mentale Karte vieler Menschen in Westeuropa gebracht, was jedoch sehr schade ist, weil die Ukraine ein schönes, geschichtsträchtiges Land ist, dass es verdient hätte, besucht und geschätzt zu werden.
So war es nicht überraschend, dass das Attribut «gefährlich» fiel, als ich meine Reiseabsicht zum ersten Mal äusserte. Obschon seit 2014 ein durch Russland entfachter, bewaffneter Konflikt in der Ostukraine existiert, war es 2020 kein Problem, die Ukraine zu bereisen. Aufgrund meiner subjektiven Erfahrungen würde ich sogar behaupten, dass die Städte Lwiw, Kyiv und Odessa noch sicherer sind als etwa London, Berlin oder Paris. Die einzig reale Gefahr bestand darin, in Kyiv von einem Auto überfahren zu werden.
Ukrainisch- oder Russisch-Kenntnisse wären sicher keine schlechten Vorbedingungen gewesen. Wer sich aber gerne überfordernden Situationen aussetzt, der kommt auch mit Englisch und Zeichensprache gut durch. Die Frage lautete demnach nicht, warum ich als Schweizer in die Ukraine verreist war, sondern warum ich es nicht schon viel früher oder viel öfters getan hatte.
Lwiw, Kyiv und Odessa – Pingpongbälle der Geschichte

Wenn wir uns den Begriff «Kolonialismus» vor Augen führen, denken wir an Dichotomien wie etwa Europa-Afrika oder Europa-Asien. Hierbei geht oft vergessen, dass es in Osteuropa ebenfalls einen postkolonialen Raum gibt. Das Gebiet der heutigen Ukraine war jahrhundertelang Spielball von Grossmächten wie Preussen, Österreich-Ungarn oder dem Russischen Zarenreich. Eindrücklich ist das den Geschichten von Lwiw, Kyiv oder Odessa anzusehen.
Alleine die ständigen Namenswechsel der Stadt Lwiw verdeutlichen diese für die osteuropäische DNA typische Spannung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Lwiw wurde 1256 vom damaligen Fürsten des Rus Galizien-Wolhynien gegründet und nach seinem Sohn Lew («Löwe») benannt. Im 14. Jahrhundert ging die Stadt an das Fürstentum Polen-Litauen über und sollte bis 1772 den polnischen Namen Lwów tragen. Von 1772 bis 1918 war die Stadt Teil des österreichisch-ungarischen Imperiums und trug den im deutschsprachigen Raum gängigen Namen Lemberg. Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg gab es eine kurze Phase der ukrainischen Unabhängigkeit, wodurch Lemberg zum ukrainischen Lwiw wurde, kurze Zeit später aber «zurück» in die neu gegründete Republik Polen ging und erneut Lwów hiess. Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurde Lwów als Teil Ostpolens ab September 1939 in die Sowjetunion einverleibt und trug fortan den russischen Namen Lwow (als Teil der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik). Erst seit der Unabhängigkeit der Ukraine anno 1991 heisst die Stadt wieder Lwiw.
Bei Kyiv ist die Geschichte ähnlich kompliziert: Das Kiewer Rus war ein mittelalterliches, slawisches Grossreich, welches bei seiner höchsten Ausdehnung vom finnischen Meerbusen bis fast ans Schwarze Meer reichte. Es bestand vom 8. bis ins 13. Jahrhundert und Kyiv war dessen politisches, ökonomisches und kulturelles Zentrum. Das Kiewer Rus wird als konstituierend für die heutigen Staaten Russland, Belarus und Ukraine angesehen. Somit entwickelte sich Kyiv schon früh zu einem Zentrum der osteuropäischen Zivilisation. Nach der mittelalterlichen Blütezeit wurde Kyiv Bestandteil der Adelsrepublik Polen-Litauen, ehe es ab 1667 dem Russischen Reich einverleibt wurde. Im Zuge der Februarrevolution 1917 wurde in Kyiv die Unabhängigkeit der Ukraine proklamiert, die jedoch nur kurz bestand hatte, da das Gebiet ab 1920 von der Sowjetunion usurpiert wurde, in der sie ab 1934 als Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik fungierte. Seit 1991 ist Kyiv Hauptstadt der seit dann unabhängigen Ukraine. Ganz wichtig: In meinen persönlichen Interaktionen wurde mir deutlich gemacht, dass hier sehr grossen Wert darauf gelegt wird, die Stadt mit «Kyiv» statt «Kiev» zu bezeichnen, da Letzteres mit der sowjetischen bzw. russischen Unterdrückung assoziiert wird.
Hier die freiheitsliebende Ukraine, da das imperialistische Russland. So simpel ist es dann doch nicht, wie etwa die Geschichte Odessas zeigt. Odessa ist gerade im Vergleich zu Kyiv oder Lwiw sehr jung und existiert erst seit 1794. Auf Anweisung von Katharina der Grossen wurde die Stadt aus dem Erdboden gestampft, um einen leistungsfähigen Militärhafen am Schwarzen Meer zu errichten. Die «Retortenstadt» entwickelte sich aufgrund ihrer geopolitischen Lage, ihres Militärhafens und angenehmen Klimas schnell zur drittwichtigsten Stadt des Russischen Zarenreichs hinter St. Petersburg und Moskau und zog überdies viele Menschen aus Westeuropa an, welche die Stadt mit ihren «westlichen» Vorstellungen mitprägten. Im Laufe des Ersten Weltkriegs wurde auch Odessa zuerst Teil der nur ganz kurz existierenden Ukraine. Nach Ende des Russischen Bürgerkriegs wurde die Stadt ab 1922 jedoch Teil der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik innerhalb der UdSSR. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt vom damals faschistischen Rumänien belagert und annektiert, später jedoch von der Roten Armee zurückerobert. Seit 1991 ist Odessa ebenfalls Teil der neu entstandenen Ukraine.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich jede dieser drei Städte seinen eigenen Charakter aneignete. Lwiw entwickelte sich zur ‚kulturellen Hauptstadt‘, einem Schmelztiegel polnischer, österreichischer und ukrainischer Kultur und hat in ihrer Geschichte eine Vielzahl bekannter Persönlichkeiten hervorgebracht. Kyiv wurde als Hauptstadt das politische Zentrum und war 2004 Mittelpunkt der «Orangen Revolution», im Winter 2013/14 Schauplatz des «Euromaidan», auch «Revolution der Würde» genannt. Odessa ist das multi-kulturelle und touristische Zentrum. Kopftücher sind hier keine Seltenheit, was unter anderem am regen Tourismus aus der Türkei liegt.
Die historische Komplexität der Ukraine wird dadurch noch verwirrender, dass in diesen drei Städten jeweils eine andere Lingua franca praktiziert wurde: ukrainisch in Lwiw, russisch in Odessa, etwa zu gleichen Teilen ukrainisch und russisch in Kyiv. Seit Februar 2022 ist indes zu erwarten, dass sich die ukrainische Sprache langfristig als alleinige Landessprache durchsetzen wird.
Sehenswürdigkeiten – die Qual der Wahl
Alle diese drei Städte sind Perlen Osteuropas und es wäre ein Leichtes, hier seitenlang die verschiedensten Sehenswürdigkeiten Stück für Stück durchzugehen. Pro Stadt gebe ich deswegen eine Empfehlung aus; ich habe sozusagen die Qual der Wahl.
«Rynok Square» in Lwiw samt Aussichtsturm: Weil die meiste Zeit ihrer Geschichte im Herrschaftsgebiet Polens, finden wir auf dem Hauptplatz von Lwiw eine typisch polnische Architektur vor. Das bedeutet, dass der Hauptplatz der Stadt als sogenannter «Rynok» angeordnet ist. Ein Rynok ist kein offener Platz, sondern ein viereckiger Ring, in dessen Zentrum die Stadthalle mitsamt Turm steht. Der 65 Meter hohe Turm lässt sich überdies besteigen, eine wundervolle Sicht auf die Altstadt Lwiws ist garantiert.
Gedenkstätte «Babyn Jar» in Kyiv: Einer der bedeutendsten historischen Standorte Kyivs ist Babyn Jar, eine Parkanlage im Norden. Dort ereignete sich eines der grössten und schlimmsten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs. In Babyn Jar wurden im September 1941 innert zwei Tagen mehr als 30‘000 jüdische Männer, Frauen und Kinder durch die Einsatzgruppen des nationalsozialistischen Sicherheitsdiensts (SD) erschossen. Im ganzen Park-Komplex gibt es verschiedene Denkmäler aus verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten.. Das grösste Denkmal stammt noch aus der Ära Stalins und ist entsprechend martialisch gestaltet. Auf Russisch erinnert dieses Denkmal sehr allgemein an die «Opfer des Faschismus». Seit 1991 wird jenes Denkmal durch zwei kleinere ergänzt, eines auf Ukrainisch und eines auf Hebräisch, welche beide explizit die Juden als Leidtragende benennen. An anderer Stelle des Areals ist eine grosse eiserne Menora (jüdischer Kerzenständer) angebracht. Nicht weit davon entfernt ist ein eiserner Wagen installiert, der an die getöteten Romas des Massakers erinnert. Das Denkmal, welches mich persönlich am meisten berührte, war jenes, das den getöteten Kindern von Babyn Jar gewidmet ist. Seine Form besteht aus Spielzeugen – genauer sind es zwei Puppen und ein Harlekin. Das sind jene Spielzeuge, welche die Kinder damals besassen und die man im Nachgang des Massakers auf dem Areal gefunden hatte. Der Tourguide, welcher mich durch Babyn Jar führte, erklärte, dass in seiner Kindheit die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung sehr intransparent über die eigentlichen Geschehnisse berichtete. Erst seit 1991 ist Babyn Jar allmählich ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung Kyivs gerückt. Davon zeugt auch ein im Bau befindliches Museum, welches am Rande des Areals steht und bald hätte eröffnet werden sollen, im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine jedoch zerbombt wurde. Ich selber fühlte mich auf dem Areal hin- und hergerissen. Die Park-Anlage ist sehr schön angelegt und lädt zum Entspannen und Flanieren ein, was es ungemein schwierig macht, sich die Dimension dieses grauenhaften Verbrechens zu vergegenwärtigen. Es scheint, als würden die Bäume über alle menschlichen Tragödien wachsen und diese vergessen lassen.

Die Katakomben in Odessa: Unterhalb der Stadt besteht ein ca. 2500 Kilometer langes, 60 Meter tiefes und auf drei Ebenen angeordnetes Tunnelsystem. Ein Grossteil dieses Systems ist nicht mehr begehbar, doch ein kleiner Teil kann noch heute besichtigt werden – jedoch nur auf offiziellen Touren, da Besichtigungen auf eigener Faust zu gefährlich wären. Gewisse Teile der Katakomben sind heute Teil eines unterirdischen Museumskomplexes. Was sind aber die Katakomben von Odessa und wann und weshalb sind sie entstanden? Als das heutige Odessa im 19. Jahrhundert angelegt wurde, benötigte man den billigen Sand- und Kalkstein, der sich unterhalb des Bodens befand. Deswegen wurden Kilometerlange Minenschachte konstruiert, um Baumaterial für die sich im Bau befindliche Stadt zu fördern. Als die Stadt dann sprichtwörtlich aus dem Erdboden gestampft wurde, kamen den Katakomben diverse neue Funktionen zu. Sie wurde zur Schmugglerroute für Waren, aber auch für verschleppte Menschen, vor allem ukrainische Mädchen, die zum Schwarze Meer geschafft wurden, um anschliessend ins Osmanische Reich verkauft zu werden. In den vielen Kriegen, die Odessa erlebte, fungierte das Tunnelsystem als Rückzugspunkt für Soldaten und Geflüchtete. Wegen des ausgehölten Bodens sind bis heute einige Gebäude sehr instabil und von der plötzlichen Einsenkung in den Boden bedroht.
Über kulturelle Differenzen – Beobachtungen eines Schweizers
Feine Unterschiede sind mir natürlich viele aufgefallen. Hier seien zwei Beobachtungen aufgezählt:
Erstens liegen in der Innenstadt Kyiv einige Liegenschaften brach und hinterlassen einen ziemlich zerfallenden Eindruck, obschon dies prinzipiell sehr schöne Gebäude wären. Besteht denn kein Interesse der Öffentlichkeit, hier Renovierungsarbeit zu leisten? Mir wurde erklärt, dass es keinen wirklichen Denkmalschutz gebe und dass ausserdem die finanziellen Ressourcen fehlten. Die jeweiligen Grundstücke würden meistens auch nicht der Stadt gehören, sondern privaten Spekulanten, die darauf abzielen, die Gebäude abzureissen und Kaufhäuser oder Restaurantketten an ihre Stelle zu bauen. So komme es ab und an vor, dass «zufällig» ein Feuer in diesen Gebäuden ausbreche, sodass ein Abriss unabwendbar wird. Offiziell wird den Obdachlosen, die sich oft in den verlassenen Liegenschaften einquartieren, die Schuld an den Bränden zugeschoben. Inoffiziell sei es aber ein offenes Geheimnis, dass hier eine Art Immobilienmafia am Werke sei.
Zweitens hat das absurd-amüsante Preissystem der Busse in Odessa einen nachhaltigen Eindruck auf mich hinterlassen. Egal, wie viele Stationen man fährt, es muss immer eine Pauschale von 7 UAH (Ukrainische Hrywnja), was umgerechnet etwa 25 Rappen sind, bezahlt werden. Dabei bezahlt die Kundschaft immer vor dem Ausstieg, indem sie das Geld rechts vom Chauffeur auf einer Theke platziert, die wiederum mit dem Wechselgeld ausgestattet ist. Die Kundschaft muss sich quasi das Rückgeld selbst ausrechnen und nehmen. Wenn die Busse voll sind, kommt es auch vor, dass Leute von hinten ihren Betrag via andere Kunden nach vorne reichen. Man scheint hier sehr auf die Integrität der Kundschaft zu vertrauen und es funktioniert tatsächlich – in der Schweiz sehr wahrscheinlich unvorstellbar.
Das angespannte Verhältnis zu Russland
Die Aufschrift «Slava Ucraina!», was auf Deutsch «Ruhm der Ukraine» bedeutet, war an Hausfassaden immer wieder zusehen. Befremdlich war auch der Umstand, dass man in Lwiw viele Kleidungsstücke oder Accessoires mit nationalistischen Symbolen erstehen konnte, an denen oft auch das Konterfei des höchstumstrittenen, nationalistischen Partisanenkämpfers und NS-Kollaborateurs Stepan Bandera aufgedruckt war. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass in der Ukraine zwar rechtsextreme Parteien existieren, diese aber im Gegensatz zu vielen anderen Ländern Europas in Wahlen oft sehr schlecht abschneiden und nicht im ukrainischen Parlament vertreten sind.
Habe ich russophobe Äusserungen vernommen? Einmal hat ein Taxifahrer das sehr unschöne Wort «Bastarde» für Russ:innen verwendet (nicht-lustig). Ein anderes Mal habe ich auf einem Strassenstand WC-Papiere mit dem Konterfei Wladimir Putins zum Verkauf gesehen (sehr lustig). Die Menschen, mit denen ich ins Gespräch kam, äusserten sich dezidiert, aber auch sehr differenziert über das komplizierte russisch-ukrainische Verhältnis. Viele befürworteten einen EU-Beitritt der Ukraine, bezüglich NATO-Beitritt war das Verhältnis zwischen pro und contra ungefähr ausgeglichen. Niemand machte sich hier die Illusion, dass die Krim je wieder zurück an die Ukraine gehen würde. Eine vollumfängliche Invasion durch Russland war zu diesem Zeitpunkt für die meisten jedoch ein absolut unvorstellbares Szenario.
Das ukrainisch-russische Verhältnis ist nicht schwarz-weiss. So existiert ein Platz in Odessas Zentrum, der den Namen «Katerynyns’ka Square» (Katharina-Platz) trägt. In der Mitte dieses nach Katharina der Grossen benannten Platzes steht denn auch eine Statue, welcher der einflussreichen Zarin gewidmet ist. Diese Widmung macht durchaus Sinn, denn Odessa wäre ohne die russische Regentin nie entstanden. Doch eine Statue Katharinas wäre in Lwiw oder Kyiv undenkbar. Aus meinen Gesprächen mit den Ansässigen habe ich herausgehört, dass man sich gerade in Odessa der mit Russland verzahnten Geschichte bewusst sei und dies auch nicht negativ beurteile oder gar tabuisiere. Im Gegenteil, man sei sehr stolz auf die eigene Geschichte. In meinen Gesprächen wurde aber ausdrücklich betont, dass die Mehrheit der Menschen hier nicht pro-Russland und erst recht nicht pro-Putin wären.

Wird die Ukraine von Neonazis regiert? Lassen wir diese Frage anhand des Antisemitismus – das nationalsozialistische Merkmal schlechthin – beantworten. Die Frage, ob Antisemitismus in der heutigen Ukraine ein Problem darstellt, wurde in den Gesprächen verneint. Leider ist das Problem latent noch vorhanden und es gibt Idioten, welche jüdische Geschäfte, Grabstätten oder Gotteshäuser immer wieder mit Swastikas beschmieren. Die Tatsache aber, dass die Ukraine einen jüdischen Präsidenten hat und sich die ukrainische Öffentlichkeit dem Ausbau der Gedenkstätte Babyn Jar widmet, sind Indizien dafür, dass Antisemitismus in der Ukraine nicht stärker vorhanden ist als in anderen europäischen Gesellschaften. Traurige Ironie der Geschichte ist, dass die russische Kriegspropaganda von einer «Entnazifizierung» der Ukraine fabuliert, russische Bombardements aber grosse Teile der Gedenkstätte Babyn Jar zerstörten.
Fazit
Es ist surreal und stimmt mich traurig, dass Ortschaften, die ich vor nicht allzu langer Zeit besuchte, nun Kriegszonen sind.
Wie geht es meinen ukrainischen Bekannten? Insgesamt habe ich mit ca. 15 Menschen in der Ukraine Bekanntschaft geschlossen und mit jenen besteht weiterhin loser Kontakt. Die Männer sind alle noch in der Ukraine, weil eine Wehrpflicht von 18 bis 65 Jahren besteht. Keiner dieser Männer ist aber in direkten Kampfhandlungen verwickelt. Die Frauen sind mehrheitlich aus dem Land geflohen und nun über ganz Europa zerstreut: Belgien, Spanien, Schweden, Tschechien, Ungarn. Neben den Bombardements und den daraus resultierenden Traumata kämpfen die im Land verbliebenen Ukrainer:innen auch mit Engpässen bei Lebensmitteln und Medikamenten. Es ist eine Tragödie, was diesem Land und seinen Bewohner:innen gerade widerfährt. Gleichzeitig bin ich sehr dankbar, durfte ich die Ukraine besuchen. Sollte es irgendwann wieder möglich sein, Lwiw, Kyiv und Odessa zu besuchen, so kann ich allen nur wärmstens empfehlen, diese Orte zu besuchen – in einer dann hoffentlich befreiten und sicheren Ukraine.
Artikelserie: Schweizerisch-ukrainische Beziehungen
– Ein Schweizer allein in der Ukraine
– Ukrainer*innen in der Schweiz
– «Die Ukraine hat ein riesiges Potenzial»
– Die Schweiz aus Sicht einer Ukrainerin
Beitragsbilder: Florian Zoller