Das Recht auf Protest einschränken: Eine unkluge und undemokratische Idee

Angesichts zunehmender Protestaktionen – insbesondere im Zusammenhang mit der Klimakrise – werden Bestrebungen lauter, das Recht auf Protest stärker einzuschränken. Das Recht auf Protest ist allerdings ein essenzielles Element einer funktionierenden Demokratie und es weiter einzuschränken, anstatt konstruktive Umgangsformen damit zu finden, ist kurzsichtig. Von Samuel Tscharner

Man mag von Klimaprotesten durch zivilen Ungehorsam halten, was man möchte. Wie schlau oder förderlich es für das Anliegen ist, sich auf Strassen festzukleben, Konzerte zu stören, oder Kunstwerke mit Suppe zu bewerfen, sei hier einmal dahingestellt. Ähnliches gilt für die tendenziell zunehmende Anzahl Demonstrationen jedes Jahr. So klingt es zunächst plausibel zu behaupten: «Wenn alle durcheinanderrufen, wird niemand mehr gehört» und die Vermutung liegt nahe, dass ihre effektive Beachtung in der Politik mit steigender Zahl eher abnimmt statt zunimmt. Ausserdem sei hier niemandem der Ärger oder je nachdem sogar der individuelle Schaden abgesprochen, die gelegentlich aus den verschiedenen Protestaktionen resultieren mögen.

Doch auch angesichts solcher Zweifel und Unannehmlichkeiten muss man schlicht und ergreifend festhalten, dass eine funktionierende Demokratie solche Proteste aushalten können muss. Nicht nur das: Sie ist in ihrer Essenz darauf angewiesen und sollte sich besser darin üben, die Forderungen der Strasse ernst zu nehmen und Mechanismen zu schaffen, um sie im politischen Betrieb angemessen zu behandeln.

Die Realität sieht dagegen anders aus. Das Anliegen das Recht auf Protest einzuschränken wird immer lauter. Dabei stammen die Stimmen gerade aus dem rechtsbürgerlichen Lager, wo stets behauptet wird, man würde die Demokratie und die Freiheit besonders hochhalten. Doch oft, und so auch in diesem Fall, scheinen sie ihre Werte derart hoch zu halten, dass sie für alle ausser Reichweite geraten.

Konkret ist die Rede von den «Anti-Chaoten-Initiativen» oder der sogenannten «Freiheitsinitiative» aus den Reihen der SVP, die beispielsweise in Zürich und Basel in der politischen Pipeline stecken.1 Darin sollen Demonstrationen grundsätzlich bewilligungspflichtig und Veranstalter haftbar gemacht werden für «illegalen» Kundgebungen oder Veranstaltungen sowie allfällige Schäden und Kosten (bspw. für Polizeieinsätze), die dabei entstehen. Ausserdem zielt man mit der «Freiheitsinitiative» darauf ab, dass die Bewilligung von Demonstrationen erschwert wird, mit dem erklärten Ziel deren Zahl zu senken.

Diese Ideen sind nicht neu. Schon 2012 verabschiedete Genf ein restriktiveres Demonstrationsgesetz. Auf Basis dieses Gesetzes, welches bei den UNO-Menschenrechtsgutachten der Schweiz immer wieder für Kritik sorgt, können Veranstalter von Kundgebungen mit massiven Bussen belangt werden.2

Zu den Vorschlägen, die in den Parlamenten diskutiert werden, kommt das teilweise brutale Vorgehen durch Polizeikräfte. So lassen sich in diesem Jahr allein in der Stadt Basel mehrere gewaltsame Eingriffe der Polizei gegen friedliche Demonstrationen aufzählen: Beispielsweise im März gegen die Demonstration des Weltfrauentages und kurz darauf gegen den Demonstrationszug am ersten Mai.

Aber auch über die Grenzen der Schweiz hinaus beobachtet Amnesty International einen Trend zur Restriktion bezüglich Protestrechte und lancierte dieses Jahr ihre neue Kampagne «Protect the Protest».3 Hier muss nicht zwangsweise an brutale Niederstreckungen von Demonstrierenden in unterdrückerischen Staaten in der Ferne gedacht werden, sondern es reicht völlig, auf unseren Nachbarn Deutschland zu schauen, wo erst kürzlich Klimaaktivisten wegen zivilen Ungehorsams zu beachtlichen Gefängnisstrafen verurteilt wurden.4

Dabei ist das Recht auf Protest für liberale Demokratien von unschätzbarer Bedeutung. Es kann als Konglomerat aus mehreren Menschenrechten verstanden werden, wie die Gewissensfreiheit, Meinungsäusserungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit. Das sind keine weithergeholten oder idealisierten Menschenrechte, sondern wurden von der Schweiz und einer Vielzahl anderer Staaten durch das Unterzeichnen verschiedener Menschenrechtsverträge anerkannt.5 Doch auch in der Bewertung durch Experten spielt das Recht auf Protest eine wichtige Rolle, beispielsweise beim Demokratieindex der Economist Intelligence Unit oder dem Freiheitsreport von Freedom House. Diese betrachten bei der Bewertung der Länder sowohl das Recht und die effektive Möglichkeit zum Protest als auch die bestehende Protestkultur.

Der normative Grund dafür liegt in der Grundidee der liberalen Demokratie. In der liberalen Demokratie muss die staatliche Gewalt und ihre Institutionalisierung in Form von Behörden, Gesetzen und Vorschriften gegenüber der Bevölkerung gerechtfertigt sein. Ihre Ausgestaltung bleibt damit Gegenstand eines fortwährenden politischen Diskurses. Daher müssen für die Bevölkerung auch Möglichkeiten zur Verfügung stehen, diese Institutionen zu kritisieren, infrage zu stellen und zu verändern. Und eine elementare Gewährleistung dieser Möglichkeit garantiert das Recht auf Protest. Ohne dieses Recht besteht stets die Gefahr, dass institutionelle Strukturen geschaffen werden, die gewisse Bevölkerungsgruppen vernachlässigen und mundtot machen. Damit stellt der friedliche Protest das letzte legitime demokratische Mittel für diejenigen dar, die mit dem Gefühl kämpfen, sich über die anderen Institutionen kein Gehör verschaffen zu können.

Das Argument vorzubringen, dass man Proteste einschränken sollte, weil sie ohnehin nichts bewirken, ausser den Nicht-Betroffenen, Einverstandenen und Gleichgültigen auf die Nerven zu gehen, lässt daher eine gravierende Unkenntnis der liberal-demokratischen Idee erkennen. Wenn Proteste tatsächlich wirkungslos bleiben, dann sollte man sich als überzeugte*r Demokrat*in schleunigst dafür einsetzen, dass sich das ändert. Die funktionierende Demokratie braucht Mechanismen, um die Stimme der Strasse zu hören, ernst zu nehmen, und adäquat darauf zu reagieren.

Man könnte sagen: Proteste sind das Fieber des Staates. Wie Fieber bei einer Grippe darauf hindeutet, dass der Körper mit seinem Immunsystem funktioniert, genauso deutet die Anwesenheit von friedlichen Protesten zunächst einmal auf eine funktionierende Demokratie hin. Doch wenn das Fieber nicht mehr abfällt, wenn sich die Proteste über Jahre hinweg häufen, wie dies auch in den westlichen Ländern der Fall zu sein scheint, dann liegt etwas im Argen.

Die Anwesenheit von Protesten in einer Demokratie zeugt nämlich nur dann von einer funktionierenden Demokratie, wenn diese Proteste auch Effekte zeitigen; wenn das letzte Mittel, um sich Gehör zu verschaffen, auch tatsächlich bis zum einschlägigen Gehör vordringt und dort dazu führt, dass auf die Kritik und die Forderungen eingegangen wird. Und auch wo die Inhalte einer Demonstration womöglich problematisch sind, kann sie dennoch dazu dienen, eine ursächliche gesellschaftliche Problematik anzuzeigen. In allen Fällen sollte nicht die Einschränkung oder das Verbot des Protests die Lösung sein. Der Körper wird nicht gesünder, wenn man ihm die Fähigkeit nimmt, ein Fieber zu entwickeln, im Gegenteil. Vielmehr sollte der Indikator für Missstände dazu genutzt werden, die Missstände frühzeitig und überlegt zu beheben.

Zu guter Letzt gebietet auch die Klugheit (phronesis) das Recht auf Protest so umfassend wie möglich zu erhalten. Es ist schlichtweg kurzsichtig, einer Einschränkung des Rechts auf Protest für den kurzfristigen Ruhegewinn zuzustimmen, auch wenn man sich als Nicht-Betroffener, Einverstandene oder Gleichgültiger durch die Proteste gestört fühlt oder tatsächlich geschädigt wird. Staaten wandeln sich. Friedenzeiten, Wohlstandswachstum und vertrauenswürdige Regierungen sind keine Selbstverständlichkeit. Das sollten die letzten Jahre uns allen deutlich vor Augen geführt haben. Wer heute nicht von einer institutionalisierten Ungerechtigkeit betroffen ist, kann es jederzeit werden. Wer heute einverstanden ist, sieht sich nach zwei, drei Legislaturperioden vielleicht aus tiefster Überzeugung zum Widerspruch gezwungen und Gleichgültigkeit kann sich auch nur leisten, wem die Umstände es vergönnen. Für so unwahrscheinlich man es heute vielleicht auch halten mag: Alle, die heute der Beschneidung ihres Rechts auf Protest zustimmen, schneiden sich damit potentiell ins eigene Fleisch.  

Und exakt an diesem Punkt stehen wir gerade. Wir stehen in der gesellschaftspolitischen Küche. Gekocht werden soll das Gericht «Liberale Demokratie für die nächsten Jahre». Wir halten das Messer in der Hand und sind im Begriff loszuschneiden. Wenn wir das Gericht nicht studieren, die Brille nicht aufsetzen und beim bereiten der grundlegenden Zutaten kurzsichtig darauf losschnätzeln, was für ein scheussliches Gericht setzen wir dann den Generationen nach uns vor?

Oder anders gefragt: Wie wird man auf unsere Zeit zurückblicken? Eine Zeit, in der wir drauf und dran sind Grundfreiheiten einzuschränken und Menschen mit Gefängnis oder hohen Bussen zu bestrafen, die sich für eine lebenswerte Zukunft und den Erhalt einer offenen demokratischen Gesellschaft einsetzten Und dies bloss, weil wir uns zu bequem waren, ihre gerechtfertigten Forderungen ernst zu nehmen.

Fussnoten:

  1. Vgl. für Basel-Stadt und für Zürich ↩︎
  2. Vgl. den letzten Universal Periodic Review zur Schweiz ↩︎
  3. Vgl. die Seite von Amnesty International ↩︎
  4. Vgl. die Berichterstattung vom ZDF ↩︎
  5. Vgl. bspw. die EMRK oder den UNO-Pakt II. ↩︎

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