Im ersten Artikel der Reihe haben wir die Impfmentalität in der Schweiz genauer unter die Lupe genommen. In diesem Artikel soll es nun um die Sicht der Israeli auf die Impfsituation in ihrem Land gehen. Von Sofia Thai und Noëmi Blättler
In Israel wurden schon rund 10 Mio. Impfdosen an die Bevölkerung verabreicht, wobei 62% der Israeli schon doppelt geimpft sind (Stand: 30. April 2021, Ritchie et al., 2021). Alle Restaurants haben offen und Anlässe im Freien mit bis zu 10’000 geimpften Personen sind erlaubt. Die israelische Regierung diskutiert nun, ob die Maskenpflicht auch in Innenräumen aufgehoben werden soll.
Im ersten Artikel über die Impfmentalität in der Schweiz wurde deutlich, dass die Schweizer Bevölkerung noch eher skeptisch gegenüber der Impfung aufgestellt ist. Schweizer*innen stehen der Impfung und deren Auswirkungen eher ängstlich und gespalten gegenüber und sind froh, wenn sie noch warten können mit der Impfung. In Israel hingegen wird im Turbotempo geimpft und das Land gilt immer noch als Spitzenreiter mit den meisten Geimpften pro Einwohner. Das Land hatte sich schon im Dezember 2020 genug Impfstoff gesichert und befreit sich nun schrittweise von den Coronamassnahmen. Die gewählten Wege der beiden Länder aus der Pandemie mit den Impfungen unterscheiden sich somit stark voneinander. Doch was denken die Israeli genau? Spiegelt sich diese politische Vorgehensweise auch in der Impfmentalität des einzelnen Israeli wider? Die Autorin Sofia Thai ist aus der Schweiz nach Jerusalem gezogen und wohnt nun seit mehr als einem halben Jahr in Israel. Vor Ort konnte sie drei Israeli zu ihren Meinungen befragen. Dieser Artikel legt die Meinungen und Sichtweisen von der Rentnerin Martine (68), dem Informatikstudent David (25) und dem Rechtsanwalt Jonathan (34) dar.

Die Impfsituation in Israel aus Sicht der israelischen Bevölkerung
In den Interviews mit den Israelis wurde besonders deutlich, dass sie froh sind, sich geimpft zu haben. Sie würden sich nun wieder sicher fühlen und dürften in die Normalität zurückkehren, sodass das Thema Corona im Alltag gar nicht mehr so präsent ist. Ausserdem war während den Interviews bei allen dreien ein gewisser Stolz auf ihren Staat spürbar.
“Ich denke, in Israel sind wir schon an einem besseren Ort als in anderen Ländern”, äussert sich die 68-jährige Martine. Sie verstehe nicht, warum mit der Coronaimpfung nicht gleich umgegangen werden kann wie mit allen gängigen Impfungen.
Der grüne Pass als Tor zum Paradies?
Nachdem die ersten Personen in Israel doppelt geimpft wurden, erhielten diese den grünen Pass als Bestätigung ihrer Immunität gegen das Coronavirus. Ein grüner Pass muss in Israel vorgewiesen werden, um beispielsweise im Innenbereich eines Restaurants sitzen zu dürfen oder ins Kino gehen zu können.
Dem grünen Pass stehen alle drei Israelis positiv gegenüber. David (25), der Informatikstudent aus Jerusalem, versteht nicht, warum Leute Kritik daran üben. „Durch den grünen Pass bekommt man ja keinen Bonus, sondern erlangt sein altes Leben zurück”. Dazu ergänzt Martine, dass der grüne Pass ja kein Privileg sei. “Es ist ja nicht so, dass nur wenige Leute Zugang dazu haben – jeder kann es haben, wenn er sich impfen lässt.” Auf der anderen Seite ist sich der Rechtsanwalt Jonathan (34), der aus der Nähe von Tel-Aviv kommt, bewusst, dass es menschenrechtliche Probleme mit der Bewegungsfreiheit und der Autonomie über den eigenen Körper geben kann und dass man immer eine gute Balance finden muss zwischen Freiheit, Sicherheit und Gesundheit, was die Regierung seiner Meinung nach bisher gut meistert.

Corona-Impfung findet breite Akzeptanz
Die Meinungen in Israel scheinen sehr homogen zu sein, was durch den Einsatz der Medien weiter gestützt wird. David meint, dass hinterfragende Meinungen zur Impfung in den offiziellen Medien, wie im Fernsehen, kritisiert würden. Damit wolle der Staat Widerstand vorbeugen. In den Medien würden beispielsweise Impfgegner gezeigt, die sich aktiv in den sozialen Medien gegen die Impfung ausgesprochen haben und nun entweder an Corona gestorben oder zu Impfbefürwortern geworden sind. Jonathan versucht die breite Akzeptanz damit zu begründen, dass die gängigen Impfungen hier sehr populär seien und generell nicht hinterfragt werden. Er sei sich nicht sicher, ob der Mangel an Diskussion etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist.
“In Israel gibt es schon eine Propaganda für die Impfung, aber nicht etwas, das ich unnötig finde. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Impfung positiv angesehen wird.”
David, 25 Jahre
Praktisch keine Spur von sozialem Druck
Auf die Frage, ob sie sich dazu gedrängt gefühlt haben, sich zu impfen, antworten alle Interviewten mit einem bestimmten Nein. “Es kam für mich nicht in Frage, mich nicht impfen zu lassen”, meint Jonathan. David fügt hinzu: “Man kann die Impfung wie den Lockdown betrachten. Es müssen alle mitmachen, damit es klappt.”
“Ich würde sagen, dass 90-99% der Menschen sich impfen lassen haben, weil sie das von sich aus wollten und nicht weil sie sich unter Druck fühlten.”
Martine, 68 Jahre
Wachsender Zusammenhalt in der Bevölkerung
Jonathan denkt, dass die Impfung den Zusammenhalt in der Bevölkerung im positiven Sinne gestärkt habe, weil sie nun wieder das soziale Leben miteinander teilen könnten. David erzählt hierfür eine anschauliche Anekdote: „Als die Impfung zugelassen wurde, wollten sich alle impfen lassen, die religiösen Personen, die Araber*innen – einfach alle. Es gab jeden Tag ab 21:00 Uhr lange Schlangen vor den Impfzentren, wo die jüngeren Leute (u.a. auch ich und meine Freundin) angestanden sind, um eine der vom Tag übrig gebliebenen Impfdosen zu ergattern. Obwohl wir nicht wussten, ob der grüne Pass eingeführt werden würde, waren wir überzeugt, dass die Impfung etwas Wichtiges ist. Wir wollten ein gutes Beispiel sein und den Leuten zeigen, dass wir uns schon geimpft haben. Und ja wir sind alle stolz auf unser Land, dass wir gemeinsam die Coronakrise bald überwunden haben. Martine hingegen beobachte auch eine Spaltung zu den Leuten, die sich aktiv gegen eine Impfung entschieden haben. Jonathan meint aber, es sei im Moment noch zu früh, um zu beurteilen, ob es eine Spaltung zwischen geimpften und nicht-geimpften Personen gebe.
Das Erfolgsrezept im Kampf gegen Corona aus Sicht der Israeli
Die israelischen Befragten erachten die Spontanität und Beharrlichkeit als zentrale Erfolgsfaktoren im Umgang mit der Coronakrise. Es sei alles ein „Happening“. Man bekomme viele Informationen auf inoffizieller Weise. Zum Beispiel erfahre man eines Tages vom Nachbarn, dass der Staat übriggebliebene Impfdosen an einem bestimmten Impfzentrum auch an die jüngere Bevölkerung verimpfen würde, obwohl offiziell die ältere Bevölkerung dran ist. Somit kam es dazu, dass jüngere Personen am Ende des Tages vor den Impfzentren Schlange standen, um noch eines der übriggebliebenen Impfungen zu ergattern. Die Geschwindigkeit wurde dadurch beschleunigt, dass das Gesundheitspersonal spontan und bereitwillig Überstunden machte, um möglichst viele Impfungen am Tag durchzuführen. Die Impfzentren bekamen mit der Zeit auch von Bars und Restaurants Verstärkung, die die Leute dazu motivierten gegen ein gratis Bier sich impfen zu lassen. Mit der Rückkehr zur Normalität und der Wiedererlangung der Freiheit minimiere sich auch nach und nach die Skepsis gegenüber der Impfung.

Fazit aus den Interviews und persönliche Meinung
Im Interview mit den drei Israeli war spürbar, dass sie froh sind, nach und nach den Fesseln der Corona-Pandemie zu entkommen. Die israelische Mentalität hat meiner Meinung nach wesentlich dazu beigetragen, dass die Impfung der Bevölkerung so schnell vorangetrieben werden konnte. Einerseits sind es das Gefühl der Einheit und andererseits die Flexibilität im Umgang mit unvorhergesehenen Situationen, die massgebend waren für diesen Erfolg. Was wir dennoch ein bisschen kritisch sehen, ist die nicht vorhandene öffentliche, kritische Diskussion der Impfung. Damit meinen wir auch nicht primär die Frage, ob die Impfung dem Körper schadet oder nicht, sondern eher die Diskussion über die Auswirkungen der Impfung auf die Gesellschaft. Denn die Impfkampagne mit Höchsttempo durchzuführen, könnte auch unvorhergesehene Risiken bergen, wenn die Gegenmeinungen nicht zu Wort kommen. Auf der einen Seite können wir die Strategie der Regierung nachvollziehen, denn die israelische Bevölkerung war noch nie so nahe am Ende der Pandemie wie jetzt und nun wollen sie sich das Tor zur Freiheit auch nicht von einer Minderheit verschliessen lassen. Im Moment erleben wir die Impfkampagnen hier in Israel wirklich als ein gemeinschaftliches Projekt, wie es auch Jonathan schön zusammenfasste:
“Insgesamt fühlt es sich für mich ein bisschen so an, als wäre die Impfkampagne ein nationales Projekt, wo jede und jeder Israeli stolz darauf ist, ein Teil davon zu sein.”
Jonathan, 34 Jahre
Die Beurteilung, ob Israels Umgang mit der Corona-Krise besser ist als der Umgang der Schweiz, bleibt jedem Einzelnen überlassen. Schliesslich muss auch jedes Land seinen Weg finden im Umgang mit der Pandemie. In Anbetracht der kulturellen und gesellschaftlichen Unterschiede gibt es schlichtweg keine one-size-fits-all Lösung.
Aus unserer Sicht hat Israel den optimalen Weg für ihr Land gefunden, wie es aus dem Kreislauf der wiederholten Lockdowns und Öffnungen ausbrechen kann, ohne kurzfristig sichtbare negativen Auswirkungen innerhalb der Gesellschaft zu erleiden. Negative Stimmen werden nicht öffentlich diskutiert. Im Kontrast dazu scheint eine kritische Auseinandersetzung in der Schweiz willkommener zu sein, wie es im ersten Text dieser Reihe ersichtlich wurde. Die Schweiz fährt einen bedachteren Weg und lockert Einschränkungsmassnahmen eher zögerlich. Beide Strategien und Mentalitäten haben ihre Vorteile, aber bergen auch Risiken. Es ist aus unserer Sicht noch nicht absehbar, welche Folgen dies auf den Kampf gegen das Virus und auf die Gesellschaft in den beiden Ländern künftig haben wird.
Titelbild: flickr: https://www.flickr.com/photos/30478819@N08/51008768022/in/photostream/
Beitragsbilder: Sofia Thai und Pixabay: https://pixabay.com/de/photos/jerusalem-israel-altstadt-w%C3%A4nde-1712855/