Eurovision Song Contest 2023: Ein europäischer Safe Space

Der Eurovision Song Contest 2023 ist wieder da. Nicht aus der Ukraine, wie es dem Gewinner der letztjährigen Show zustehen würde. Stattdessen, aus Gründen die uns allen bekannt sind, findet die beliebte Musikshow in Liverpool statt, der Stadt der Beatles. Vielleicht als Hilferuf oder als Selbstironie ist das diesjährige Motto „United By Music“ zu verstehen. Hört ihr es auch aus der Ferne hallen – aus der sich immer weiter sich wegdriftenden Brexit-Insel? Vielleicht hört man den Hilferuf bis nach Kiew. Von Tomas Marik

Die beiden Halbfinale liegen bereits hinter uns und wir dürfen uns auf das Finale am Samstag freuen. Wir wissen noch nicht wer gewinnt, doch die Verlierer sind uns bereits bekannt. Und nein, es ist nicht die Band Aija aus Lettland oder Reiley aus Dänemark, es sind die Veranstalter und unsere Empathie. Alles dreht sich in der Musikshow um ein gemeinsames Miteinander – und um die Farben Blau und Gelb – also die Farben der Ukraine, der EU und des Europarats. Man könnte meinen, da kann nichts schiefgehen, in der Musikshow werden alle „united“ für den gemeinsamen Frieden in der Ukraine einstehen. Doch das passiert nicht – man lässt sich die Stimmung nicht versauen und führt ein Eiertanz rund um die Realität auf.

Eurovision Song Contest und seine Belanglosigkeiten – Wie politisch darf der ESC sein?

In den beiden Halbfinalen wurden vor jedem Aufritt der Musiker*innen ein Wahrzeichen aus der Ukraine (dem letztjährigen ESC – Gewinner), den Vereinigten Königreich (dem Veranstalter) und letztendlich jeweils von einem der Teilnahmeländer gezeigt, aus dem die jeweiligen Musiker*innen kommen. Bei den Einspielern wurden die Wahrzeichen quer durch Grossbritannien gezeigt. Einmal aus England, Schottland oder Wales.

Die Einspieler aus der Ukraine waren keineswegs so mannigfaltig. Um genau zu sein, es wurde nur die Orte in den 3-Sekündigen Sequenzen präsentiert, die nicht von Russland besetzt oder umkämpft werden. Das ist schade, wenn doch die Krim an Architektur und Natur so viel zu bieten hat. Seien es die hohen Klippen die weit ins Meer ragen, der Woronzowskij-Palast, der Khanpalast von Bachtschyssaraj oder das Swalbennest. Aber vielleicht gehört ja die Krim in den Köpfen der Veranstalter schon bereits zu Russland oder vielleicht ist es nur eine böse Unterstellung und diese Wahrzeichen passen nicht ins Programm.

Ukraine
31 Sehenswürdigkeiten, in 12 Orten, wurden während der beiden Sendungen präsentiert – doch der ganze Süden und Osten der Ukraine wurde von ESC ignoriert

Wenn aber von mystischen Steinen gesprochen wird, und die Urytski Rocks in der Westukraine und anschliessend Stonehenge in Südengland gezeigt werden, weiss man spätestens jetzt, hier wurde eine komplett falsche Auswahl getroffen. Oder gibt es etwas mystischeres als brennender Phosphor und qualmender Rauch in den Ruinen von Bachmut? Oder einen durch Bomben zerstörten Kindergarten (in der Ukraine wurden seit Kriegsbeginn 3 025 Bildungseinrichtungen bombardiert und beschossen – Stand 24.01.2023)? Oder Folterkammern?

Für alle diese neuen und in Europa einzigartigen Sehenswürdigkeiten hat Russland seit Anfang der Invasion gesorgt, doch den schenkt man leider keine Beachtung. Vielleicht weil das zu politisch wäre – für die sonst so „neutrale“ Fernsehshow? Oder schlicht zu unangenehm, soll doch bei aller angedeuteten Politik der Spass im Vordergrund stehen?

Nach Punkt 2.7.1 der EBU-Richtlinien verpflichtet sich der Veranstalter jeglichen politischen Inhalt in der Sendung zu unterbinden. Doch wenn sich die Sendung mit der Ukraine beschäftigen möchte und sie Gebiete, die der Ukraine völkerrechtlich angehören, systematisch aus Aufnahmen in der Sendung entfernt, lässt man sich auf den durch Aggressor Russland vorgegebenes Diktat ein. Wenn der ESC die durch Russland annektierten oder umkämpften Regionen nicht zeigt, akzeptiert er indirekt die politische und militärische Doktrin Russlands. Dass die Sendung weiterhin politisch ist, ist keine Überraschung – der Eurovision Song Contest war schon immer politisch.

Songs über die alten durchgekauten Themen aber auch über Empowerment – Eine Kritik

Über den Musikgeschmack lässt sich streiten, doch die Lyrics sind ein guter Anhaltspunkt für Interpretation und Bewertung der einzelnen Lieder. Wenn man sich die einzelnen Songs, die laut Vorgaben des Eurovision Song Contest nicht länger als 3 Minuten sein dürfen, anhört und auf den Text achtet, stellt man folgendes fest: In Europa haben wir ein echtes Problem mit dem Herzmuskel – gut für die Kardiologen – und wir feiern nur Party. Tatsächlich thematisieren die meisten Lieder ein gebrochenes Herz, Liebe oder das Tanzen. Auch andere Themen werden angesprochen, beispielsweise The Busker aus Malta singt über Pullover, Noa Kirel über Einhörner und der Finnländer Käärijä, mit einem tätowiertem Rammsteinlogo auf der Brust, singt über Pina Coladas.

Let 3 aus Kroatien mit dem Lied „Mama ŠČ“

Zum Glück finden sich im Blau-Gelb geschmücktem Saal Musiker*innen die das Thema des Krieges trotzdem aufgreifen. Wie Luke Black mit dem Song Samo Mi Se Spava aus Serbien oder der Schweizer Vertreter, der Toggenburger Remo Forrer mit dem Lied Watergun. Skurril, schrill aber richtig cool war der Auftritt der Band Let 3 mit dem Song Mama ŠČ in der ein gewisser „böser kleiner Psychopath“ mit zwei Raketen in den Händen von in Unterhose und Uniformen gekleideten Männern parodiert wird! (Eine mögliche Interpretation von Mama ŠČ findest du hier.) Genauso eindeutig politisch war der Aufritt der nur aus Frauen bestehenden tschechischen Band Vesna, die auf Englisch, Tschechisch, Ukrainisch und Bulgarisch Solidarität mit Ukraine bekundet hat.

Die Folkpop-Band Vesna, bestehend aus drei Tschechinnen, einer Slowakin, Bulgarin und Russin, wollte, wie die Frontsängerin Patricie Fuxová in einem Interview beteuerte, den ihr gegeben Raum für etwas Sinnvolles nutzen und nicht wieder nur über ihr gebrochenes Herz singen. Im Lied My Sister`s Crown von Vesna geht es um den Zusammenhalt unter Schwestern und dass niemand das Recht hat, einer von ihnen (Ukraine) ihr Dasein abzusprechen und sich an ihr zu vergreifen. Während der Vorstellung wurde im Hintergrund eine sich öffnende und wieder schliessende Hand eingespielt, ein von der Women’s Funding Network propagiertes Hilfezeichen gegen häusliche Gewalt.

Am Samstag, im Finale können wir dann dem ukrainische Duo Tvorchi mit dem passenden Lied „Heart of Steel“ lauschen. Der Rest wird wieder einmal mehr über Partys und die Liebe singen.

  • Vesna - Eurovision Song Contest
  • Forrer - Eurovision Song Contest
  • 2023.05.08 Corinne Cumming EBU 1090
  • 230508 Sarah Louise Bennett EBU 0384 Enhanced NR
  • wordcloud

„Keine Lust mehr auf die Ukraine“ – Ich brauch ein Safe Space

Viele Menschen haben einfach keinen Bock mehr, sich mit der Ukraine auch jetzt beim Eurovision Song Contest auseinander zu setzen, wie es aus Kommentarspalten auf YouTube oder unterhalb von Zeitungsartikel zu entnehmen ist. Manche äussern sich genervt, dass es bereits klar ist, wer wohl wieder gewinnen wird – die Ukraine. In einem anderen Kommentar äussert sich jemand erleichtert darüber, dass die Türkei nicht dabei ist, sonst würden die wegen dem Erdbeben sicherlich gewinnen. Empathie kann manchmal so einem auf den Sack gehen!

Man kann die Aufregung auf einer Seite nachvollziehen, wir alle führen unser eigenes Leben mit eigenen Herausforderungen und persönlichen Tragödien. Dann möchten wir zumindest nach Feierabend unserem Alltag entfliehen und sich der Unterhaltung hingeben. Denn wir in Europa – also die, die gerade kein Krieg führen – brauchen ein Safe Space vor unserem Fernsehen, damit wir feiern können und sich mit der Welt da draussen nicht schon wieder auseinandersetzen müssen. Die zuschauenden Ukrainer*innen lassen wir draussen stehen, sie können von da aus die Aussicht auf eine heile Welt am Besten geniessen. Nur im Unterbewusstsein können wir vielleicht doch dankbar sein, dass zwischen uns und Russland die Ukraine die Stellung hält. 

Doch in einer europäischen Musikshow, die eigentlich in Kiew stattfinden sollte, die wegen dem Krieg aber nach Liverpool verlegt wurde, sollte mehr Solidarität enthalten sein als bisher geboten wurde. Die ukrainischen Farben im Saal und ein paar einzelne Anspielungen reichen nicht aus, denn so wird das Gefühl erweckt „Wir haben es angesprochen – jetzt ist aber gut – wir möchten doch nicht traurig werden“. Dies wird verstärkt von den eingespielten politischen und heute realitätsfremden Darstellungen der Ukraine – einer heilen Welt, die es so nicht mehr gibt. Vielleicht werden wie alle aber noch überrascht und es wird sich im Finale am Samstag noch bessern.

Denn wer hat schon bitte Lust auf den Krieg? Sicherlich nicht die Millionen geflüchteten Ukrainer*innen und die Soldat*innen auf den Kampffeld. Denn auch sie möchten in ihrem eigenen Land am Feierabend nicht über den Krieg nachdenken müssen.

Zum Thema Ukraine-Krieg erschien auf JetztZeit
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Bilder bereitgestellt von Eurovision Song Contest
Titelbild: Let 3 – Sarah Louise Bennett / EBU
Beitragsbilder:
Vesna – Corinne Cumming / EBU
Let 3 – Corinne Cumming / EBU
Luke Black – Sarah Louise Bennett / EBU
Remo Forrer – Sarah Louise Bennett / EBU
Wortwolke erstellt mit Wortwolken.com
Karte: Google Maps

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