Ukrainer*innen in der Schweiz – Schweizerisch-ukrainische Beziehungen Teil II.

Ukrainer in der Schweiz

Die Wurzeln der ukrainischen Gemeinschaft in der Schweiz reichen zurück bis ins 19. Jahrhundert, viele Ukrainer*innen leben seit Generationen hier. Seit Februar erleben sie nun, wie Millionen ihrer Landsleute die Ukraine verlassen und im Ausland, auch in der Schweiz, Schutz suchen müssen. Ihnen – den Ukrainer*innen in der Schweiz widmet sich der 2. Teil unserer Serie über schweizerisch-ukrainische Beziehungen. Von Anniina Maurer

Liza ist eine Weltenbummlerin. Die junge Ukrainerin liebt es, in Bewegung zu sein und sich immer wieder neu zu erfinden – normalerweise. Als Russland im Februar ihre Heimat überfällt, ändert sich für sie auf einen Schlag alles. Zum ersten Mal in ihrem Leben weiss Liza nicht mehr wohin. Eine Rückkehr ist nun nicht mehr möglich, die Zukunft mehr als ungewiss. Was andere Reisende idealisieren – das Leben im Moment – ist für Liza plötzlich alles, was bleibt und ein einziger Albtraum.

«Andere idealisieren das Leben im Moment.
Wenn es aber das Einzige ist, was einem bleibt, ist es ein purer Albtraum.»

Im ersten Moment ist Liza daher völlig überfordert. Zum Zeitpunkt des Überfalls befindet sie sich in Litauen, wohin sie in der Vorwoche vorsorglich ausreiste. Was aber als Nächstes kommen soll, kann Liza nicht sagen. Nach einigem Hin und Her nimmt die IT-Fachfrau schliesslich das Angebot ihrer Schwester an, sie nach Basel zu holen. Diese lebt bereits hier und kann eine Unterkunft zur Verfügung stellen. So kam Liza in die Schweiz. Es war keine bewusste Entscheidung, die Umstände haben für sie entschieden.

Ein neues, ungewisses Leben

Wie Liza geht es derzeit vielen Ukrainer*innen. Allein in der Schweiz kamen seit Februar über 60’000 Menschen unter. Auch sie mussten ihre Heimat aufgeben, um sich in Sicherheit zu bringen. Hier geht es ihnen jedoch nur bedingt besser. Zwar seien die Geflüchteten mit dem Nötigsten versorgt, Ruhe finden sie aber nicht. «Die meisten Geflohenen haben hier zwar das Notwendigste, aber wer jeden Tag um das Leben seiner Lieben fürchtet und sehen muss, wie alles, was man kennt, vernichtet wird, dem kann es einfach nicht gut gehen.» Das sagt Tetyana Polt, Präsidentin der Basler Ortsgruppe des Ukrainischen Vereins der Schweiz, der Ukrainer in Basel. Seit Februar machen sie und ihre Leute sich für die Ankommenden stark, sammeln Spenden, übersetzen und leisten Aufklärungsarbeit. Die wirklich existenziellen Probleme können sie aber nicht lösen.

Auch Liza fühlte sich während den ersten Wochen in der Schweiz wie ein Geist. Täglich erreichten sie Horrornachrichten aus der Ukraine, bis sie irgendwann ganz empfindungslos wurde. «Ich lief durch Basel und nahm von der Stadt gar nichts wahr. Ich fühlte mich wie unsichtbar», erzählt sie. In dieser Zeit blieb Liza viel unter Ukrainer*innen, da nur sie ihre Lage wirklich verstehen konnten.

Ukrainer*innen in der Schweiz

Die ukrainische Community in der Schweiz reicht dabei zurück bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals emigrierten vor allem politische Flüchtlinge in die Schweiz. «Für sie war die Schweiz ein Ort, wo sie frei leben, arbeiten und ihrer Politik nachgehen konnten», erklärt die ukrainische Historikerin Dr. Liliya Bilousova. Besonders in Genf habe sich eine ukrainische Gemeinschaft etabliert, die auch berühmte Namen wie beispielsweise den Wissenschaftler und Verleger Mykhailo Drahomanov anzog. Eine zweite Migrationsbewegung fand Anfang des 20. Jahrhunderts im Zuge des Ersten Weltkrieges und der Russischen Revolution statt. Insbesondere nach dem Ende der Ukrainischen Volksrepublik 1921 reisten Ukrainer*innen nach Europa aus. Zu der Zeit wurde in Bern eine ukrainische diplomatische Mission errichtet, welche bis 1926 für die Anerkennung der unabhängigen Volksrepublik eintrat. Auch Genf blieb als Sitz des Völkerbundes für die ukrainische Gemeinschaft weiterhin wichtig, da sie von hier aus gegen schwere, von der Sowjetunion begangene Menschenrechtsverletzungen kämpfte.

In der Zeit des Zweiten Weltkrieges kamen vermehrt ukrainische Studierende, Flüchtlinge sowie Kriegsgefangene in die Schweiz. Um sie besser unterstützen zu können, wurden verschiedene Hilfswerke und 1945 der Ukrainische Verein der Schweiz gegründet. Besonders die sogenannte ‘Genfer-Gruppe’ war aktiv und profitierte von hochrangingen Mitgliedern, Politikern sowie Kirchengrössen. Neben dem politischen Engagement setzten sich die Vereine für die Pflege der ukrainischen Religion und Kultur ein.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Ukraine von der Schweiz voll anerkannt, so dass am 6. Februar 1992 diplomatische Beziehungen aufgenommen werden konnten. Der Fall des Eisernen Vorhangs ermöglichte nun einer neuen Generation von Ukrainer*innen die Ausreise, wovon sich einige die Schweiz als neue Heimat aussuchten. Bis 2014 wuchs so die ukrainische Gemeinschaft in der Schweiz auf etwas über 6000 Menschen an. Viele davon arbeiten im Wirtschafts- oder Techniksektor.

Kulturpflege

In den 90er-Jahren kam auch Tetyana Polt nach Basel, um hier zu studieren. Von der Schweiz hatte sie vorher noch nicht viel gehört, schliesslich ist sie ein kleines Land unter vielen. Hier angekommen, gefiel ihr besonders, wie Schweizer*innen Dinge ‘pflegen’, also erhalten und zurechtmachen. In Basel erlebte sie auch, wie vielfältig die ukrainische Kultur hierzulande ist: «Ich kam hier in Kontakt zu migrierten Ukrainer*innen aus allen Landesteilen, die unterschiedliche Traditionen kannten.» Ausserdem lebten hier Menschen, deren Vorfahren schon zur Zeit des Zweiten Weltkriegs auswanderten, aber ihre Traditionen über Generationen erhalten haben. Die Pflege der ukrainischen Kultur wird von da an ein persönliches Anliegen von Polt.

Tetyana Polt mochte es, wie Schweizer*innen Dinge pflegen.
Sie pflegt heute die ukrainische Kultur.

Die Pflege und das Vermitteln von Kultur ist eines der Hauptanliegen des Ukrainischen Vereins der Schweiz. Er unterstützt ukrainische Sprachschulen, veranstaltet Feiern, Filmfestspiele und politische Foren. So soll nicht nur die ukrainische Kultur erhalten, sondern ebenfalls der Austausch mit der Schweizer Gesellschaft gefördert werden. Auch die Basler Ortsgruppe ist diesbezüglich aktiv. Besonders seit 2014 veranstaltet die Gruppe für Spenden Kulturanlässe, um damit humanitäre Arbeit in der Heimat zur unterstützen.

Gemeinsam helfen

Diese Arbeit machte den Verein in der Stadt Basel bekannt, so dass, als Russland die Ukraine im Februar überfiel, sofort eine gute Zusammenarbeit zwischen Ukrainer*innen und lokalen Kräften stattfinden konnte. Einen Grossteil der Freiwilligenarbeit bewältigen die Ukrainer in Basel jedoch selbst. Das nun schon seit Monaten gezeigte Engagement ist enorm. «Es ist unglaublich, was unsere Leute gerade leisten», sagt Tetyana Polt, «ich kann nur stolz und dankbar sein.» Dankbar ist Polt auch für die Unterstützung von lokalen Kräften. Immer wieder werde sie gefragt, was noch getan werden könne, und erfahre von Behörden ebenso wie von Institutionen oder Privatpersonen grosse Solidarität. Alle wollten helfen, die Lage der Ukraine zu bessern. Die Ukrainer in Basel haben daher ein Dankesschreiben an ihr Umfeld verfasst (siehe unten).

«Auf menschlicher Ebene geschieht gerade Erstaunliches.
Ich kann mir nur wünschen, dass dies so bleibt.»

Wie weiter

Diesen Eindruck teilt auch Liza. Nach einigen Wochen geht es ihr langsam besser, so dass sie Kontakt zu den Basler*innen zu suchen beginnt. Sie ist nun wieder bereit, sich auf einen neuen Ort einzulassen und ein Land kennenzulernen, in dem sie noch nie war. Von den Schweizer*innen ist sie überrascht und findet sie offener und wilder, als sie angenommen hatte. Einige Male seien ihr zwar gönnerhafte Leute mit Vorurteilen begegnet, aber Liza spürt ebenfalls eine grosse Hilfsbereitschaft, die bis heute nicht abgenommen habe.

Wie genau es für sie weiter gehen soll, weiss Liza nicht. Sie dachte daran, nach Kanada zu ziehen, fühlt sich aber inzwischen auch in Basel wohl: «Ich erwäge langsam, mich irgendwo niederzulassen. Aber ob das hier oder sonst wo in der Welt ist, kann ich im Moment nicht sagen». Der Abschied aber würde ihr sicherlich schwerfallen, fügt Liza hinzu.   

Offener Dankesbrief 1

Titelbild und Dankesbrief: Ukrainer in Basel

Artikelserie: Schweizerisch-ukrainische Beziehungen
Ein Schweizer allein in der Ukraine
– Ukrainer*innen in der Schweiz
«Die Ukraine hat ein riesiges Potenzial»
Die Schweiz aus Sicht einer Ukrainerin

Kommentar verfassen