Vielen Menschen scheint es schwer zu fallen, „Nein“ zu sagen. Ich stelle mir die Frage, wieso das so ist und welche Rolle die beiden Wörter „Ja“ und „Nein“ für unsere Lebensqualität spielen. Ausserdem denke ich darüber nach, wie man einen leichteren Umgang mit dem Wort „Nein“ erlangen kann und somit die Fähigkeit, Entscheidungen bewusst zu treffen. Von Carla Sophie Gräfingholt
Ein neuer, turbulenter Lebensabschnitt
Die ersten Wochen meines Studiums in Basel gleichen einem Wirbelsturm. Dazu gibt es verschiedene Gründe: Wenn man aus einer kleinen Stadt am Bodensee kommt, haut einen das Kulturangebot hier wirklich um. Jeden Tag fahre ich an so vielen Orten und Gebäuden vorbei, bei denen ich mir fest vornehme, bald mal einen Fuss hineinzusetzen. Es gibt so vieles, was ich sehen und erleben möchte, dass dieses Wirbelsturmgefühl wahrscheinlich ganz natürlich ist. Und um ehrlich zu sein: Bis zu einem gewissen Grad geniesse ich diese neue Aufregung. Aber wenn mich die ersten Wochen hier in Basel eines gelehrt haben, dann, dass man jeden Tag Tausenden von Möglichkeiten begegnet, sei es im Alltag, in der Uni, im Privat- oder Jobleben. Und so versuche ich, das neu begonnene Studium, einen Nebenjob, das Alleine-Wohnen, das Erkunden einer neuen Stadt und das Schreiben unter einen Hut zu bekommen, was sich nicht gerade als einfach gestaltet.
Kurz bevor ich mein Abitur in der Tasche hatte, dachte ich: „Nur noch ein paar Wochen, dann ist der Stress geschafft.“ Von wegen. Ich bin mir sicher, dass das Abitur erst die Generalprobe war und ich auch jetzt noch dabei bin, mich in einem Leben zurechtzufinden, in dem man die Zeit, in der die Waschmaschine läuft, dazu nutzt, nebeneinander einen Essay und eine Einkaufsliste für den nächsten Tag zu verfassen.
Vielleicht hast du selbst gerade mit dem Studium begonnen und kennst dieses Gefühl? Oder du bist bereits länger dabei und kannst ein Lied davon singen? Womöglich hast du schon einen Weg für dich gefunden, mit diesem Gefühl umzugehen? Ich glaube, wie unterschiedlich unsere Studiengänge, Hobbies und Lebensentwürfe auch sind, wie vielseitig jeder und jede von uns ist, dass wir einen kleinen gemeinsamen Nenner haben: Wir alle stehen am Anfang eines neuen Lebensabschnitts, der vielen neuen Chancen und Möglichkeiten die Tür öffnet, gleichzeitig aber auch vielen neuen Verpflichtungen, die es alle unter einen Hut zu bekommen gilt.
So viele Dinge warten auf uns, seien es Veranstaltungen im Vorlesungsverzeichnis, freiwillige Mitgliedschaften in Fachgruppen, Vereinen, Theater- und Musikgruppen, Kurse im Unisport, Nebenjobs oder Praktika. Die vielen verschiedenen Möglichkeiten Credits zu sammeln, etwas für die Welt von heute und morgen zu tun und den Lebenslauf auszuschmücken, wachsen wie Blumen am Wegesrand. Die Verlockung ist gross, jede Blume mit einem „Ja“ entgegenzunehmen, aber was macht man, wenn der Korb voll mit Blumen ist und dessen Kapazität nicht so gross ist, wie man zu Beginn dachte?
Was macht das Leben so wertvoll?
Unsere Kapazitäten sind nicht unendlich gross. Ein voller Stundenplan und ein beachtlicher CV machen nicht die Qualität unseres Lebens aus, sondern auch die Leerstellen im Lebenslauf, die nur uns gehören, deren Geschichten für niemanden gedacht sind ausser für uns selbst. Die freien Nachmittage im Stundenplan, an denen wir unsere eigenen Abenteuer erleben oder einfach in den Himmel schauen und Luft holen können, machen das Leben ebenso wertvoll. Woran ich mich besonders gerne erinnere, ist ein Regenbogen, den ich, als ich mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Uni war, über dem Rhein habe leuchten sehen. Ich musste einfach lächeln, weil es so schön aussah und der erste Regenbogen war, den Basel mir gezeigt hat. Bis heute bereue ich es, aus Eile nicht angehalten und ein Erinnerungsfoto gemacht zu haben. Auch ein Tee, Pflaume und Zimt, der so süss duftet wie er schmeckt, eine Kerze, die ich beim Lernen für die Uni brennen lassen kann oder ein Blumenstrauss, den ich von zwei Freundinnen zum Geburtstag bekommen habe und der seitdem so gut duftet, dass es mir immer ein Lächeln ins Gesicht zaubert, wenn ich nach einem Unitag mein Zimmer betrete, machen für mich das Leben aus. Kleine Augenblicke wie diese dienen nur meinem eigenen Wohlbefinden.
Es scheint so, als würde eine „Work-Life-Balance“ heutzutage so stark angepriesen werden wie noch nie. Doch manches Mal, wenn ich mir auf Social Media die vollen Tagespläne fremder Menschen anschaue, die jeden Abend mit einer produktiven Yogasession enden, frage ich mich, ob es sich dabei nicht eher um einen neuen Stundenplan für die Freizeitgestaltung handelt, der den regulären Stundenplan von Uni oder Arbeit einfach um eine bestimmte Zeit ablöst. Wo ist nun tatsächlich eine Balance zu finden?
Allmählich habe ich das Gefühl, dass eine erfüllende Balance zwischen Arbeit und Freizeit erst dann entstehen kann, wenn wir für uns selbst erprobt haben, was wir tatsächlich leisten können und vor allem möchten. Und das kann uns niemand sagen ausser wir selbst. Pausen müssen nicht immer um eine bestimmte Zeit geschehen, ich finde sogar, dass ein spontaner Kaffee richtig gut schmeckt, während ich manches Mal umso glücklicher bin, einen Produktivitätsschub ohne Unterbrechung ausnutzen zu können. Yoga kann tatsächlich sehr schön sein, es gibt aber auch Abende, an denen ich bewusst das Yoga ausfallen lasse, um lieber gemütlich auf dem Sofa eine Pizza zu essen und Netflix zu schauen.
Was die Worte „Ja“ und „Nein“ mit der Lebensqualität zu tun haben
Ich glaube, dass eine gesunde und erfüllende Balance zwischen Pflicht und Freizeit viel mit zwei kleinen Wörtern zu tun hat, die wir alle jeden Tag unbewusst sagen: „Ja“ und „Nein“. Ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ entscheidet, ob wir eine Aufgabe übernehmen und Zeit in diese investieren oder nicht. Als ich diese zwei kleinen Worte besonders beachtet habe, fiel mir auf, dass mir eines leichter über die Zunge rollt als das andere, obwohl ich oftmals gar nicht gross darüber nachgedacht habe. Nämlich das Wort „Ja“.
Jetzt im Rückblick fällt mir erst auf, wie schwer es mir bereits früher fiel, das Wort „Nein“ auszusprechen. Egal, ob es um ein zusätzliches Referat ging, welches angeblich unvermeidbar für eine bessere Note im Abitur war, das Übernehmen einer Aufgabe, um eine andere Person zu entlasten oder um eine Party, obwohl ich eigentlich lieber auf dem Sofa geblieben wäre und „Gilmore Girls“ zum zweiten Mal durchgeschaut hätte. Und heute sieht es nicht anders aus. Dass das Leben einiges bietet und es mit jedem Tag mehr wird, merkt man glaube ich spätestens dann, wenn man das vertraute Klassenzimmer gegen den Hörsaal und den Stundenplan gegen das Vorlesungsverzeichnis austauscht. Doch eine grössere Fülle an Aufgaben, Verpflichtungen und Möglichkeiten erfordert es auch, die eigenen Kapazitäten einzuschätzen und diese vor allem mit genügend Aufmerksamkeit zu beachten. Wie vorhin bereits am Beispiel von Blumen am Wegesrand aufgezeigt, muss man nicht jede vermeintlich dringende Aufgabe und Verpflichtung aufpicken und mit sich tragen, denn irgendwann wird jeder Korb zu schwer. Zu manchen Blumen muss man „Nein“ sagen, nicht jede Verpflichtung ist so wichtig und dringend, wie sie zu sein scheint.
Um herauszufinden, welche Bedeutung die beiden Wörter „Ja“ und „Nein“ für unser Leben haben, habe ich bei den alltäglichen Gesprächen mit Kommiliton*innen und Mitbewohner*innen genauer hingehört. Vielen von uns fällt es anscheinend schwer, eine Bitte auszuschlagen oder eine Erwartung zu enttäuschen, sodass wir oftmals später darüber klagen, zu viel zu tun zu haben und nicht zu wissen, wie wir alles stemmen sollen. Einige sagten zu mir, dass es ihnen schwer fällt, „Nein“ zu sagen, sie manches Mal danach aber nicht gerade glücklich oder entspannt sind und viel lieber etwas anderes machen würden. Kennst du es auch?
Es gibt verschiedene Gründe, warum das so ist. Zum Beispiel sagen wir „Ja“, weil wir Angst haben, etwas zu verpassen. Wir sagen „Ja“, weil wir denken, jemand anders erwartet es von uns. Wir sagen „Ja“, weil wir uns wünschen, jemand anders würde es auch tun, nur weil wir es tun. Was nicht nur deshalb nicht funktioniert, weil jeder von uns anders ist, sondern auch, weil es niemandem von uns guttut, stumm zu hoffen und zu erwarten und uns danach enttäuscht zu sehen. Wir sagen „Ja“, weil wir denken, dass wir etwas auch tun müssen, nur weil es angeblich jeder tut. Wir sagen „Ja“, weil wir Angst haben, ein „Nein“ könnte uns schaden. Oder wir sagen „Ja“, weil unsere Zunge so sehr an dieses Wort gewöhnt ist, dass sie das andere gar nicht formen kann.
Von der Kunst, „Nein“ zu sagen
Eine kleine Umfrage auf Instagram zeigte, dass die beiden Wörter „Ja“ und „Nein“ durchaus eine Auswirkung auf unser Wohlergehen haben. Ich hoffte dabei, eine eindeutige Antwort zu finden, musste aber erkennen, dass man keins der Worte kategorisch bejahen oder ablehnen kann. So verschieden die Möglichkeiten und Chancen in unserem Leben sind, so unterschiedlich sind auch wir. Es lässt sich keine eindeutige Lösung finden, wann man lieber „Ja“ und wann man lieber „Nein“ sagt. Manche Möglichkeiten können uns richtige Türen öffnen, für die wir immer dankbar sein werden, andere können uns aber auch in Sackgassen führen, über die wir uns später ärgern. Der einzige Ratschlag, den ich wohl erteilen kann, ist es, diese Entscheidung bewusst zu treffen. Das bedeutet, dabei in sich hinein zu fühlen und abzuwägen, welche Relevanz das Annehmen oder Ausschlagen einer Bitte oder Aufgabe für uns und unsere Wünsche hat. Du musst nicht in der Sekunde, in der du um etwas gebeten wirst, „Ja“ sagen, du hast das Recht, dir kurz Zeit für diese Entscheidung zu nehmen. Unsere Welt ist so schnelllebig, teilweise so fordernd, dass es nur du selbst bist, der dir diese Zeit und diesen Raum wird geben können.
Erst wenn du es selbst für dich einforderst, bewusst an eine Entscheidung heranzugehen, wird dir diese Zeit gegeben. Je schneller eine Entscheidung getroffen wird, desto besser mag es vielleicht für deine Umwelt sein, es ist aber niemandem gedient, wenn du diese Entscheidung später bereust, weil du sie zu schnell und zu hastig getroffen hast. Und am wenigsten gedient ist dabei dir selbst. Dasselbe gilt für vermeintliche Pflichten von denen du glaubst, sie erfüllen zu müssen. So ist zum Beispiel die Regelstudienzeit kein Muss! Das habe ich zu Beginn meines Studiums erkannt, als ich einen Kurs wegen meinem zu vollen Stundenplan streichen musste. Einen Kurs, der in keinem kommenden Semester wiederholt wird. Und bis heute bereue ich es nicht, am Freitagmorgen Zeit zum Ausschlafen zu haben oder im Bett frühstücken und eine Serie schauen zu können. Sogar die Waschmaschinen im Waschkeller sind am Freitagmorgen frei und das Gefühl ist echt super, einfach mein Ding machen zu können, ohne mich über einen Stau verschlafener Mitbewohner mit Wäschekörben unter dem Arm zu ärgern, so wie es Sonntags der Fall ist. Seitdem erfülle ich vielleicht nicht die Regelstudienzeit auf die Kreditpunktezahl genau, dafür aber, so kitschig das klingen mag, mich. Und das ist mir mittlerweile mehr wert.
Ich muss immer wieder mal an ein Zitat denken, welches du vielleicht auch schon gehört hast: „Ein Nein zu jemand anderem ist ein Ja zu dir selbst.“ Wenn ich also in diesem Wirbelsturm, in dem ich mich gerade befinde, eines lerne, dann, dass er nie aufhören wird, egal ob nach der ersten Proseminararbeit, Seminararbeit oder irgendwann nach der Bachelorarbeit. Vielmehr geht es darum, zu lernen, wie man damit umgehen und in sich drin die Ruhe finden kann, die den Wirbelsturm von aussen ausgleicht. Es hat ein bisschen gedauert, dieses Gleichgewicht zu finden und ab und zu komme ich noch immer aus der Balance. Es ist wahrscheinlich normal, sich in einem neuen Alltag zurechtzufinden und dabei zu straucheln. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit jedem Mal, wenn wir eine Entscheidung bewusst treffen und erst dann „Ja“ oder „Nein“ sagen, wenn wir zuvor in uns selbst hineingehört haben, mehr an Gleichgewicht gewinnen und irgendwann fest auf dem Boden stehen können, egal, wie es um uns herum stürmt. Egal, wie stressig und ungemütlich es um dich ist, je ruhiger und klarer es in dir selbst aussieht, desto besser schaffst du es durch solche Zeiten hindurch.
Und ist das Studium nicht eine gute Zeit, um genau das zu lernen? Egal, wie schnelllebig unsere Welt heutzutage sein mag, für eine Sache ist immer Zeit: Eine Entscheidung bewusst zu treffen. Diese Zeit musst zuallererst du selbst dir geben, das kann niemand sonst für dich tun. Und es fängt mit den zwei kleinen Worten „Ja“ und „Nein“ an.
Titelbild: Carla Sophie Gräfingholt