All zwei Jahre wird die Kunst an der Biennale in Venedig wiedergeboren. Seit der ersten Biennale 1885 ist vieles passiert. Zwei Weltkriege, die Emanzipation, etliche Völkermorde, das Ende der Kolonialpolitik, der Zerfall der Sowjetunion sowie der Aufstieg neuer Weltmächte. Die Biennale war und ist eine Zeugin davon und das hinterlässt Spuren. Die Kunstausstellung reisst alte Wunden auf, lässt Blut tropfen, drückt auf bestehende wunde Punkte, widmet sich dem Gesang der Marginalisierten und erhängt einen Zentauren. Es ist Zeit für eine Bilanz, für die man bis nach Sparta gehen muss. Von Tomas Marik
Giardini – Biennale im Stadtpark
Das Gefühl einer alten vergangenen Welt macht sich erstmals breit, wenn man die Giardini della Biennale, den ursprünglich von Napoleon angelegten venezianischen Stadtpark, betritt. Stolze, alte Bäume ragen zum Himmel hoch, eine in der Lagunenstadt eher ungewöhnliche Erscheinung. Dazwischen sind die Länderpavillions, hier wird Kunst ausgestellt. Vom Haupteingang führt ein langer gerader Weg einen kleinen Hügel hoch. Ein Hügel aus Trümmern. Auch Häuser mussten Napoleon weichen. Auf dem höchsten Punkt gegenüber dem Haupteingang steht der grosse britische Pavillon. Daneben Frankreich, Deutschland, Belgien und Japan, etwas unterhalb schliesslich Russland. Die Weltmächte der Zwischenkriegszeit sind hier vertreten. Unter den privilegierten Staaten hat selbst der Pavillon der Tschechoslowakei seinen Platz gefunden. In wenigen Wochen jährt sich deren Zerfall zum dreissigsten Mal – willkommen an der Biennale 2022!
Die britische Ausstellung, die sich schwarzen Frauenstimmen in der Musik widmet, hat den goldenen Löwen, den Hauptpreis der Kunstausstellung, gewonnen. Frankreich stellt Filmsets aus algerisch-französischen Filmen nach. Die USA befassen sich mit der historischen Vorstellung der schwarzen Frau (siehe Titelbild), Finnland mit Racial Profiling, Brasilien stellt sich mit der wörtlichen Darstellung von Redewendungen der Realität, Polen zeigt auf beeindruckenden Tapisserien das Leben der Roma, Australien beschallt die Kunstinteressierten mit einem Livegitarrenspiel, Russland bleibt geschlossen und Dänemark hängt einen hyperrealistischen Zentauren auf. Wieso? Wieso nicht!
Die Staaten, die es nicht in den Stadtpark Giardini geschafft haben, stellen ihre Kunst im Arsenale aus. Arsenale ist eine grosse Schiffswerft und wurde der Namensvetter aller Waffenlager. Aber auch da hört Kunstausstellung nicht auf – die Stadt ist voll mit Galerien und Ausstellungsräumen. In der Kirche San Giorgio Maggiore hat beispielsweise der chinesische Künstler und Dissident Ai Weiwei einen übergrossen Kronleuchter aus schwarzem, undurchsichtigem Muranoglas platziert. Der Kronleuchter besteht aus über 2`000 Einzelteilen, doch er trägt keine Lichter. Er besteht aus unzähligen Skeletten von Menschen, Tieren und Dinosaurier. Sie alle greifen nach dem Nichts. „Menschliche Komödie – Memento Mori“ heisst diese beeindruckende und gleichzeitig schaurige Installation.
Internationale Exhibition
Die Internationale Exhibition, welche die Ländergrenzen überwindet, wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Biennale von einer Frau, Cecilia Alemani, kuratiert. Das Thema der zentralen Ausstellung lautet „The Milk of Dreams“ und geht auf das Märchenbuch von Leonore Carrington zurück, in dem sie sich dem Thema der Verwandlung und der Realität des Traumes stellt. An der Biennale geniessen die Kurator*innen die ganze künstlerische Freiheit. Und die nutzt Alemani vollkommen aus. In jedem Raum taucht man in eine andere Welt, in der man aufs Neue überrascht wird.
Das Besondere an der zentralen Ausstellung ist der Fokus auf weibliche Kunst und auf den globalen Süden. Über 80% der ausgestellten Künstler*innen sind Frauen. Die Kunstwerke beschäftigen sich mit dem weiblichen wie auch dem männlichen Körper, den Schönheitsidealen, der sexualisierten Gewalt, Rassismus und Diskriminierung. Es wird Wert daraufgelegt, dass man bei den offiziellen Führungen durch die Kunstausstellung den sozialen und ethnischen Hintergrund der Künstler*in erfährt, um das eigentlich präsentierte Kunstwerk in einen Kontext zu setzen.
„Wanderer, kommst du nach Spa…“
„Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl“ hat Simonides von Keos betreffend der 300 gefallen Spartaner, die ihre Stadt gegen die Perser am Thermopylen Engpass verteidigten, geschrieben.
Heinrich Böll greift den Titel auf, beschreibt in seiner Kurzgeschichte „Wanderer, kommst du nach Spa…“ die Zerstörung der alten Welt. In der Geschichte wird ein Gymnasiast, der seit drei Monaten als Soldat dient, in die Fleischpresse namens 2. Weltkrieg hineingeworfen. Die Geschichte beginnt, als er in ein Lazarett transportiert wird, sein rechtes Bein und beide Arme hat er an der Front gelassen.
Nach und nach erkennt der Protagonist, dass die Stadt, durch die er gefahren wird, seine Heimatstadt ist, dass das Notlazarett sein altes Gymnasium ist. Der Raum, in dem er stirbt, ist sein altes Klassenzimmer. An der Schultafel steht immer noch das Thema seiner letzten Unterrichtsstunde bevor er in den Krieg abgeführt wurde: „Wanderer kommst du nach Spa…“
Was hat dieses berühmte Werk der Trümmerliteratur mit der Biennale gemein? Dass die Giardini von Napoleon auf einem Trümmerhaufen erbaut, wurde schon gesagt. Die Biennale selbst hat beide Weltkriege überstanden, doch sie altert nicht gut. Die Pavillons und ihre Anordnung sind Abbilder einer alten Welt. Der Deutsche Pavillon wurde in Zeiten des Nationalsozialismus erbaut, an der Ästhetik sehr deutlich erkennbar. Adolf Hitler selbst war bei der Eröffnung 1934 anwesend. Im Jahr 2022 blieb der Pavillon leer, bis auf ein grosses Loch. Die Künstlerin Maria Eichhorn riss Boden und Wand auf, um die Fundamente zu zeigen.
Auch der Spanische Pavillon mit seinen sechs Räumen blieb leer, nur die Innenwände haben sich unbemerkt um 10 Grad gedreht, damit der Pavillon besser mit anderen Ausstellungshäusern „kommuniziert“. Die Biennale aus dem 19. Jahrhundert erweckt den Eindruck, als ob die Staaten und Kurator*innen selbst nicht wüssten, wie sie sich der neuen Realität im 21. Jahrhundert stellen sollen.
Das Modell der Biennale evoziert das Bild eines grossen Zoos mit Parkanlage und Pavillons. Nur besucht man nicht die Pinguine im Antarktispavillon, sondern Roboter im koreanischen Pavillon.
Wer sich langweilt, wechselt mit wenigen Schritten den Kontinent. Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Wie bereits erwähnt, repräsentieren die Staatspavillons eine Welt aus Zeiten des Kolonialismus. In den Giardini ist von 55 afrikanischen Staaten nur Ägypten vertreten. Neben den europäischen Staaten erscheinen die wenigen nicht-europäischen Staaten wie Brasilien, Japan, Korea, Australien als „Exoten“.
Die zeitgenössischen Bezüge zeigen sich in der Themenwahl der Pavillons. Die Pavillons werden in neue Kontexte gerückt, man stellt in der Kunst bisher marginalisierte Künstler*innen aus und reflektiert Schmerz und Leid, Täter und Opfer.
Wie in Bölls Kurzgeschichte am Lazaretteingang gerufen wird: „Die Toten hierhin, habt ihr Tote dabei? (…) Die Toten hierhin, hörst Du? Und die anderen die Treppe hinauf in den Zeichensaal, verstehst du?” werden an der venezianischen Kunstausstellung Leichen aus dem Keller geholt und die Überlebenden stellen die Toten aus.
Der junge Protagonist konnte nicht glauben, dass er in Benndorf, seiner Heimatstadt war. Er glaubte zu Fiebern, zu träumen. Auch den Besucher*innen präsentiert sich die Biennale im Ganzen auf eine besondere Art befremdlich und trotzdem heimelig, sogar vornehm, wie die Artilleriegeschosse, die der junge Soldat auf seinem Totenbett hört, während er an die lange Namensliste an den zukünftigen Kriegsdenkmälern denkt.
In Venedig lässt die Kunst nichts aus. Man wird mit einer Welt konfrontiert, die sich mit all ihren Ecken und Kanten zeigt. Also mit unserer Welt. Daher ist die Biennale ist mehr als nur eine Kunstausstellung, sie ist ein Zeugnis unserer Welt in der Zeit. Man wird durch die Biennale, wie in Bölls Geschichte, durch ein Lazarett getragen, dem früheren Gymnasium, voller Ausstellungsobjekte, Bildern von Friedrich dem Grossen, über Adolf Hitler, bis zu Darstellungen von Kolonialhäusern mit „Negern“. Auch eine Togo-Banane darf nicht fehlen.
Die Biennale berichtet nicht mehr von 300 heldenhaften Spartanern, sondern von den namenlosen „Gymnasiasten“, die jetzt endlich benannt werden. Die Biennale zeigt aber nicht nur den Tod, das Ende, sondern einen möglichen Ausweg – eine Transformation. So ist die Welt im Wandel das grösste Ausstellungsthema von „Milk of Dreams“.
Und wie endet Heinrich Bölls Kurzgeschichte? Als der Protagonist erkennt, dass er in seinem alten Schulzimmer liegt und der Mann, der sich über ihn beugt, der alte Schulmeister Birgeler ist, bittet er ihn um „Milch“.
Dieses Essay entstand im Rahmen der Exkursion der Schweizerischen Studienstiftung “Univers Suisse & Culture Matters: Venedig, die Kunstbiennale und die Schweiz”.
Titelbild: ICA Simone Leigh
Beitragsbilder: Lino Hofstetter, Selina Ehrenzeller und Tomas Marik