Friedrich August von Hayek: Von der Unwissenheit zur Freiheit

In seinem 1960 erschienenen Werk The Constitution of Liberty (Die Verfassung der Freiheit) verteidigt der österreichische Philosoph und Ökonom Friedrich August von Hayek die individuelle Freiheit, die er grob gesagt als Abwesenheit von Zwängen durch andere Menschen versteht. Von Rafaela Schinner

Ein Argument, dass er dabei vorbringt, ist besonders interessant, weil es sich explizit nicht auf metaphysische Annahmen wie beispielsweise die naturgegebene Freiheit des Menschen stützt. Dieser Text ist in Auseinandersetzung mit den ersten zwei Kapiteln von On the Constitution of Liberty entstanden und soll als Anstoss dienen, über den Wert der individuellen Freiheit nachzudenken.

Ich werde Hayeks Argumentation nachzeichnen und einige Überlegungen, Gedankenanstösse und Kritikpunkte anschneiden.

Unwissen als Ausgangspunkt

Hayeks Ausgangsposition ist unser Wissen (knowledge), beziehungsweise unser Unwissen (ignorance).

Am Anfang steht die Feststellung, dass der einzelne Mensch das meiste, was ihm hilft, zu leben und seine Ziele zu erreichen, nicht weiss. Die unzähligen Erfahrungen vergangener Generationen, die unsere Zivilisation geformt haben, sind in unseren Gewohnheiten, Sprache, Traditionen, emotionalen Gesinnungen oder Institutionen implizit enthalten. Wir stehen auf den Schultern des über viele Jahre angesammelten Wissens unterschiedlichster Menschen. Unsere Handlungen basieren somit nur zu einem kleinen Teil auf unserem bewusst verarbeiteten, kognitiven Wissen.

Eine zweite Feststellung überträgt diesen Gedanken auf die gesellschaftliche Ebene. Die durch vielzählige Erfahrungen geformten gesellschaftlichen Praktiken sind ohne menschliches Design entstanden. Gemäss Hayek herrscht auch hier eine erhebliche Unwissenheit unsererseits: Wir verstehen weder wie die Gesellschaft funktioniert, noch was es braucht, damit sie erhalten bleibt. Somit haben wir keine rationale Kontrolle über die Gesellschaft, weil wir die Auswirkungen von Einwirkungen und Veränderungen kaum abschätzen können.

Raum lassen für Unerwartetes

Basierend auf diesen Überlegungen stellt Hayek folgende Behauptung auf: Wir sollten nicht versuchen, die Gesellschaft ganz unseren rationalen Idealen gemäss zu gestalten.

Ein weiterer Grund für diese These besteht darin, dass wir selbst ein Produkt unserer Zivilisation sind: Es ist der Zustand unserer jetzigen Gesellschaft selbst, welcher den Umfang und die Möglichkeiten menschlicher Zwecke und Werte festlegt. Vor hundert Jahren waren unsere Weltanschauung und unsere Ideen darüber, wie unser Zusammenleben funktionieren soll, wesentlich verschieden. In diesem Sinn sind selbst unsere Ideale systemimmanent und unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel. Dementsprechend plädiert Hayek dafür, Raum zu lassen für eine kontinuierliche Revision unserer derzeitigen Ansichten und Meinungen, welche durch zukünftige Erfahrungen nötig werden wird. Dies schliesst aber nicht aus, dass wir nach der Erreichung unserer momentanen Ziele streben sollten.

Wissen als Grundlage der Zivilisation

Diese Gesellschaft, deren komplexe Funktionsweise unseren Verstand übersteigt, benötigt zu ihrer Entwicklung, Erhaltung und vor allem Anpassung an sich ändernde Umstände stets neues oder besseres Wissen. Hayek betont, dass Wissen immer Wissen von Einzelpersonen ist, wobei es keine Instanz geben kann, die alles Wissen aller Menschen gleichzeitig in sich vereinigt. Er spricht dabei nicht von wissenschaftlichem Wissen, sondern von allen menschlichen Anpassungen an die Umwelt, in welche vorherige Erfahrung einfliesst[1].

Jedes einzelne Individuum lebt in einer spezifischen Umgebung, ist mit eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten ausgestattet, hat bestimmte Gewohnheiten, und macht bestimmte Erfahrungen – dies sind jeweils einzigartige Kombinationen. Die demgemäss unterschiedliche Art von Einzelpersonen, mit ihrer Umwelt zu interagieren, Wissen zu erlangen und ihre Tätigkeiten an sich fortlaufend ändernde Umstände anzupassen tragen alle zur Anpassung der Gesellschaft an Veränderungen bei. Die guten Ideen verbreiten sich unter den Menschen und setzen sich allmählich durch.

Unwissenheit und Freiheit

Die Frage für die Gesellschaft, welche für ihre Entwicklung auf dieses Wissen von Einzelpersonen angewiesen ist, ist die Folgende: Wie müssen Institutionen beschaffen sein, damit sie das maximale Potential, welches im Wissen der Individuen liegt, ausschöpfen können und damit die Chance erhöhen, dass die Gesellschaft als Ganze gute Lösungen findet, ihre Ressourcen sinnvoll nutzt und sich angesichts wechselnder Umstände entwickeln kann?

Die Veränderungen, die uns bevorstehen, sind zumeist unvorhersehbar. Wir können nicht vorher wissen, welchen Herausforderungen wir uns als Gesellschaft stellen müssen und somit weder voraussagen, wer die beste Kombination aus Fähigkeiten und Möglichkeiten besitzen wird, um Lösungen zu finden, noch wie dies geschehen wird. Und selbst wenn wir einige der Herausforderungen kennen (man denke zum Beispiel an den Umgang mit dem Klimawandel) wissen wir nicht, wie die Lösung aussehen wird.

Es ist somit essentiell, dass jede Person über die Möglichkeit verfügt, gemäss ihrem eigenen spezifischen und einmaligen Wissen zu handeln. Dadurch können wir als Gesellschaft die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine Konstellation von individueller Ausstattung und Umständen in einem verbesserten oder neuen Werkzeug (tool) resultiert[2]. Gemäss Hayek müssen wir versuchen, unsere Institutionen so zu gestalten, dass Innovationen möglichst schnell bekannt werden und die gesamte Gesellschaft davon profitiert.

Hayeks Grundlage für die individuelle Freiheit in Handlung und Gedanken basiert somit auf der Anerkennung unserer eigenen Unwissenheit angesichts der für uns monumentalen Bedeutung von Wissen.

Denkanstösse und Kritik

Hayek vertritt sehr liberale Positionen und spricht sich generell gegen Umverteilung aus. Sein Argument für die individuelle Freiheit könnte vielleicht aber auch dazu benutzt werden, für mehr Umverteilung zu argumentieren, denn ein Individuum, das über ein gewisses Mass an Wohlstand verfügt, hat mehr Möglichkeiten, aus seinem spezifischen Wissen und seiner Ausstattung etwas zu machen und der Gesellschaft damit dienlich zu sein.

Hayek argumentiert nicht für die individuelle Freiheit, weil er dem Individuum ein Primat vor der Gesellschaft einräumt. Im Gegenteil, er argumentiert aus der Sicht der Gesellschaft als Kollektiv, das sich anpassen und entwickeln will und fragt, wie das Individuum diesem Ziel am besten dienen kann.

Freiheit schafft Raum für die Entstehung von Gutem, aber auch von Schlechtem (nicht unbedingt in einem moralischen Sinn). Wie kann sich Hayek sicher sein, dass sich schlussendlich das Gute durchsetzen wird und nicht das Schlechte die Zivilisation zugrunde richtet?

Wenn die individuelle Freiheit nicht eingeschränkt wird, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sie neben nützlichen auch sehr schlechte Auswirkungen hat. Wollen wir den Preis wirklich bezahlen? Vielleicht existiert ein Punkt, an dem die Freiheit so eingeschränkt wird, dass wir möglichst viele ihrer Vorteile bewahren und die potentiellen Risiken minimieren können.

Was können wir von diesem Argument für den Umgang mit Tradition lernen? Hayek betont, dass Tradition viel Wissen und Erfahrungen von früheren Generationen beinhaltet. Sie hat somit einen Wert lediglich darum, weil sie Tradition ist: Sie hat sich bewährt. Jedoch leben wir in einer sich ständig verändernden Umwelt. Somit sind muss auch dieses Wissen und somit die Tradition immer wieder neu bestehen und revidiert werden.

Quelle

Hayek, Friedrich A. von, Ronald Hamowy, und Friedrich A. von Hayek. The Constitution of Liberty: The Definitive Edition. The Collected Works of F. A. Hayek, v. 17. Chicago: University of Chicago Press, 2011.


[1] Hayeks Wissensbegriff bezieht sich hier mit vor allem auf praktisches und situatives Wissen. Damit eine einzelne Instanz über all dieses bei Individuen liegende Wissen verfügen könnte, müsste sie theoretisch jede Erfahrung jedes Individuums zu jedem Zeitpunkt gemacht haben.

[2] Hayek erklärt nicht explizit, was er unter «Werkzeugen» versteht, ich denke, der Begriff ist im weitesten Sinn zu verstehen. Darunter fallen neben konkreten Dingen wie T-Shirts oder Computer auch Geld, Sprache oder demokratische Praktiken.

Titelbild: Friedrich August von Hayek

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