Warum ich Geschichte studiere. Von Simone Meier
Ich sass an meinem Schreibtisch, draussen war es dunkel, vielleicht war es auch kurz nach Mitternacht, und das Weiss des Bildschirms flimmerte durchs Zimmer. Ich schrieb an meiner Maturaarbeit und arbeitete am letzten Teil. Ich befasste mich mit den Auswirkungen des europäischen Kolonialismus in Ostafrika und merkte im Verlauf der Arbeit schnell, wie so oft bei solchen Arbeiten, dass es sich um ein riesiges vielschichtiges Thema handelt, das noch detaillierter und noch feiner durchgearbeitet werden kann als ich es damals getan habe. Ich sass in dieser Laptopflimmerdunkelheit, wollte mein Fazit schreiben und hatte da, nach einiger Literaturrecherche, langem Durcharbeiten und Sichten von Texten und eigenem Schreiben, die Erkenntnis, was Geschichte denn ist und was sie nicht ist und wie Geschichte schreiben und Geschichtsschreibung mit dem grossen Wort der Subjektivität einher geht – ich war fasziniert davon, sass auch ein bisschen verloren da, weil ich mich dann fragte, was dann richtig und was falsch sei und von was man denn eigentlich ausgehen könne, wenn alles ja auf solch ein subjektives Auffassen und Niederschreiben beruhe. Ich weiss es immer noch nicht, muss ich vielleicht auch nicht – aber ich will jetzt mal darüber schreiben, auch im Schreiben denken und befasse mich im Folgenden mit dem Sinn oder Unsinn des Geschichtsstudiums.
Vergangenheit und Gegenwart
Ich studiere Geschichte. Ich entschied mich für dieses Studium, weil ich den Geruch alter Bücher mag, weil ich den Blick zurück machen und vergangene Gesellschaften mir anschauen will und weil ich auch wissen will, was andere dazu sagen. Ich interessiere mich für den Mensch, wie er war und wie er ist. Das Geschichtsstudium erschien mir als ein Weg, der mir eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen ermöglichen kann.
Bevor ich weiter über das Studium der Geschichte schreibe, will ich zuerst nochmals fragen, was denn Geschichte ist. Diese Frage wird zugleich oft und nie gestellt- schnell denkt man an grosse bekannte Geschichtsereignisse, hat die Bilder händeschüttelnder Politiker*innen und „GET THE HELL OUT OF VIETNAM“-Schilder und oder grosser römischer Gladiatorenkämpfer im Kopf. Klar ist, dass mit dem Begriff der Geschichte reale Ereignisse gemeint sind, denen ein Mensch eine gewisse Relevanz zugesprochen hat, um sie dann niederzuschreiben. Paul Veyne, ein französischer Philosoph und Historiker, der meine Anfänge des Geschichtsstudium mitprägte, da ich mich in einer Veranstaltung über Veyne mit vielen Masterstudierenden verirrte, sagte, Geschichte sei ein wahrer Roman. Er zog den Begriff des Romans hinzu, weil Geschichtsschreibung diese (kleine) Fiktionalität hat, da sich der Geschichtsschreibende seinem subjektiven Blick unterordnet und somit Geschehnisse individuell gewichtet. Ein anderes Zitat, das ich an dieser Stelle miteinbeziehen will und das mir ebenfalls bezüglich dieser Thematik blieb, ist ein Zitat Sebastian Haffners: Auf die Frage, was denn Geschichte sei, antwortete er in einem Vortrag, dass nicht alles, was je geschehen ist, zu Geschichte werde, sondern nur das, was Geschichtsschreibende irgendwo und irgendwann einmal der Erzählung für Wert erachtet hätten. Erst Geschichtsschreibung schüfe Geschichte. „Geschichte – um es ganz scharf zu sagen – ist keine Realität, sie ist ein Zweig der Literatur.“
Was macht denn nun das Geschichtsstudium? Das Geschichtsstudium befasst sich mit verschiedenen Epochen, durchdringt und beleuchtet verschiedenste Historiker und Historikerinnen und deren Arbeitsweise, diskutiert diese und bringt demnach neue Historiker und Historikerinnen hervor. Das Geschichtsstudium fragt nach der Vergangenheit und versucht mit dem daraus hervorgehenden „wissenden“ Blick, die Gegenwart zu verstehen und einzuordnen. Und weil in einem Studium viele Studierende auch teilhabend sind, wird dies breit aufgefächert und das Diskutierte nochmals diskutiert. Was schnell als alt und abgestaubt abgetan wird, zeigt sich meiner Meinung nach lebendig und bunt. Das Studium der Geschichte gibt den heutigen Gesellschaften Boden und entscheidet oder zeigt Ideen auf, wie Gesellschaften mit ihrem kollektiven Gedächtnis und dem gesellschaftlichen Erinnern umgehen können, sollen oder müssen.
Deshalb macht Geschichte studieren Sinn. Ein Geschichtsstudium lässt einem eine Art Werkzeug aneignen, wie Meinungen, Quellen und Menschen verstanden und diskutiert werden können. Dieses Werkzeug setzte ich fest mit dem Verständnis der Subjektivität in Verbindung- das Wissen um den subjektiven Blick, die Begrenzung unseres Denkens und wie Goethe halt sagt: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst“. Das Wissen um ein Nichtwissen und trotzdem um dieses gewisse Anstreben der Objektivität. Es gäbe diesen Begriff ja nicht, wenn er zu nichts gebrauchen wäre – die Objektivität hält illusorisch zusammen und schafft eine Plattform für Subjekte. Die Geschichte befasst sich, neben anderen Disziplinen, genau damit und lässt einem, so wie mein jüngeres Maturaarbeits-Ich, diesen Fakt erleben. Und egal, wo man sich nach einem Geschichtsstudium befindet- ob man als Museumswärter, als Lettland-Korrespondentin, als Lehrer, als ausgeflippte Autorin oder sonst irgendetwas arbeitet- dieses Werkzeug, dieser Blick, bringt einem immer und überall was, weil wir Menschen sind und Menschen arbeiten häufig mit anderen Menschen und wenn da keine anderen Menschen sind, dann bist du ja auch ein Mensch und der kann sich auch selbst versuchen, zu verstehen.
Und noch kurz über Sinn und Unsinn und überhaupt die Frage „Was machst du danach, was bringt dir das?“: Eigentlich macht ja alles Sinn oder alles keinen Sinn. Diese Sinnfrage kann ganz gross gesehen werden und aufs Leben übertragen werden und dieser Frage kann man sich ganz kleinlich oder auch laut annähern, jedenfalls frage ich mich nach dem Sinn der Sinnfrage und finde, die macht keinen Sinn, sondern finde, es geht um das Machen. Es geht um Inhaltliches und was das mit dir macht und was du mit dem machst und was du daraus wirst. Eigentlich kann ja dann diese Antwort trotzdem als Sinn gesehen werden und daher könnte ich der Sinnfrage auch wieder Sinn zusprechen. Mache ich aber nicht und lasse die Diskussion bezüglich Sinn und Unsinn offen und wünsche gutes Sinnieren – denn das ist sinnvoll.
Titelbild: Universität Basel