Der Schönheitswahn ist nach wie vor ein omnipräsentes Thema. Der kulturelle Wandel der westlichen Gesellschaft hat zwar zu einem stärkeren allgemeinen Bewusstsein über Fragen des Body Image und der Inklusion von verschiedenen Schönheitsidealen geführt. Aber nur weil Heidi Klum nun in jeder Staffel Germany’s Next Top Model die Wörter «Diversity», «Personality» und «Plus Size» krächzt, gibt es immer noch einen Konsens über einen unerreichbaren Standard der Schönheit. Von Aisha Wüthrich
Paradebeispiel dafür sind die Obsession mit der Schönheitsoperation des «Buccal Fat Removal» und der Diättrend von TikTok, der zu einem Mangel an Diabetesmedikamenten führte. (vgl. Javaid 2022, vgl. Silva 2022) Egal wie viel Arbeit in Bezug auf das Body Image und die Selbstwahrnehmung geleistet wird, ist und bleibt es ein Thema, das beschäftigt. Die Tatsache, dass das bereits erwähnte Format von Germany’s Next Top Model nach 18 Staffeln trotz grosser Kritik immer noch läuft oder dass Personen bei Misswahlen kandidieren, ist Beweis genug, dass Selbstbild, Schönheit und der Vergleich derer viele Menschen interessiert.
Deshalb ist es nicht überraschend, dass es in der Schweiz trotz des Konkurses der Miss Schweiz-Organisation fortlaufend regionale Misswahlen gibt (vgl. Zofinger Tagblatt 2022). Wieso haben Länder oder gar Regionen überhaupt ein Bedürfnis nach einer amtseigenen Miss? Was vertreten und vermitteln sie? Und wie können die Misswahlen fortbestehen, obwohl ihnen massenhaft Kritik entgegengebracht wird? Was reizt die Veranstalter*innen und Zuschauer*innen an diesem Format?
Inhaltsverzeichnis
Was sind Misswahlen und wieso gibt es sie überhaupt?
Um diese Fragen besser aufzuarbeiten, muss zuerst klargestellt werden, was eine Misswahl überhaupt ist. Der Duden bezeichnet die Misswahl als eine «Veranstaltung, auf der eine Schönheitskönigin gewählt wird.» (Duden 2023) Wer oder was eine Schönheitskönigin ist, bleibt dabei offen. Der Definition von King-O’Riain zufolge ist eine Schönheitskönigin eine Person, normalerweise eine Cis-Frau, die von einer Gruppe von Menschen gewählt wird, um eine symbolische Repräsentation der kollektiven Identität gegenüber einem grossen, oft nationalen Publikum darzustellen. Die Wettbewerbe, in denen Schönheitsköniginnen gewählt werden, variieren jeweils im sozialen Kontext und in der Art der Kriterien, die zu einem Sieg erfüllt werden müssen.
Während ihrer Amtszeit zeigt sich die Miss an öffentlichen Events als symbolische Repräsentantin. Dabei trägt sie eine Krone und eine Scherpe bedruckt mit ihrem Titel. (vgl. King-O’Riain 2008: 74f) Es geht also darum, eine Repräsentantin der kollektiven Identität zu erschaffen, die mit den eigenen Werten und Vorstellungen übereinstimmt – oder mit denen zumindest für die eigene Gemeinschaft bekannt sein möchte. Dabei geht es nicht «nur» ums Aussehen, sondern es müssen auch andere Kategorien existieren, die die gewünschten Qualitäten aufzeigen.
Bei den meisten Wettbewerben liegen grundsätzlich ähnliche Kategorien vor. Es gibt jeweils eine Frage- und Antwort-Runde, ein Interview, eine Runde im Abendkleid, eine in traditioneller Kleidung, eine im Badeanzug sowie eine Runde, in der die Kandidatinnen ein Talent demonstrieren sollen. Die immerwährenden Abläufe sind begleitet von den Worten, dass es hier um Kultur geht und nicht um Schönheit. Es sei nämlich von kulturellem Mehrwert, dass junge Frauen im Bikini über den Laufsteg stöckeln. (vgl. ebd.: 75f)
Anschliessend an diese Argumentation muss gesagt werden, dass es sich tatsächlich um eine beeindruckende Schaufläche der Kultur handelt. Eine Misswahl ist eine Veranstaltung, an der eine Auseinandersetzung mit der kollektiven Identität stattfindet und sich folglich mit den Fragen befasst: Wer sind wir? Wofür stehen wir? Was wollen wir darstellen? Einerseits wird die Kultur betrachtet, in der Kandidatinnen sich bewerben und denken, die gewünschten (kulturellen) Kriterien zu erfüllen. Andererseits wird gleichzeitig Kultur produziert, denn mit jedem neuen Wettbewerb findet eine neue Diskussion über die normativen Werte statt. Meist werden diese Normen lediglich reproduziert, aber es kann zu neuen Aushandlungen zwischen Faktoren wie Geschlecht, Ethnizität, Nationalität und Sexualität führen.
«Die ideale Frau» im Vergleich: Die Miss America und die Miss Schweiz
Miss America: Die «Self-Made Woman»
Neben dem Ziel, die Rolle einer Repräsentantin zu übernehmen, wurden «beauty pageants» bei ihrer Entstehung in den USA, dem Herkunftsland der Misswahlen, als ein wichtiges ziviles Ritual verstanden. Sie dienten als wesentliche Quelle des Wissens für viele junge Frauen und zeigten, was die «disziplinären Praktiken der Weiblichkeit» sind. (vgl. Banet-Weiser/Portwood-Stacer 2006: 257) Es ging darum zu lernen, was die «ideale Weiblichkeit» ist und wie eine Person sich dementsprechend zu verhalten hat. Daher kann gesagt werden, dass die Misswahl dazu diente, die «ideale Weiblichkeit» in die Welt zu tragen und somit zu (re-)produzieren. Da eine Miss die Repräsentation der «idealen Weiblichkeit» ihres sozio-kulturellen Kontexts ist, ist der Idealtypus herkunftsgebunden.

Eine Miss Schweiz unterscheidet sich von einer Miss America aufgrund der unterschiedlichen Werte, die landesintern zelebriert werden. Eine Miss America soll zum Beispiel den American Dream widerspiegeln, d. h. die Idee, alles allein aufbauen zu können, solange nur genug Arbeit darin investiert wird. Interessant dabei ist die Tatsache, dass eine Miss America, und somit die ideale US-amerikanische Staatsbürgerin, vor allem in den frühen Jahren des Wettbewerbs eine Person war, die sich unterordnet, weiss und heterosexuell ist. (vgl. ebd.: 257f)
So ist die Miss America eine Repräsentantin aller Werte und Qualitäten der USA, ergo auch der systematischen Probleme des Staats, denn sie verkörpert auch diese. Dadurch zeigt sie perfekt die Grenzen des American Dreams auf, den nur Personen erreichen können, die die gewünschten Kriterien erfüllen.
Miss Schweiz: Glamourös, aber nicht abgehoben
Die Miss America ist ein Sinnbild des American Dreams und somit das Ideal einer «Self-Made Woman». Aber welche Qualitäten und Ideale wurden denn in einer Miss Schweiz gesucht und schliesslich von ihr verkörpert?
Ein zentraler Faktor war von Beginn an, auch für die Miss Schweiz, die Schönheit. Schönheit im Schweizer Sinne war eine (Cis-)Frau, die sich im Alter zwischen 17 und 25 Jahren befand und mindestens 1.68m gross war. So besagen es die Teilnahmebedingungen, die zum Antritt ans Casting angefordert wurden. (vgl. Annabelle 2012) Zu den gewünschten Körpermassen lässt sich leider nichts mehr finden, aber in Anbetracht dessen, das alle vergangen Missen äusserst schlank und sportlich gebaut und mit einem üppigen Dekolleté beschenkt waren, lässt sich das Ideal 90-60-90 als ein wiederkehrendes Muster erkennen.
Wenn eine Anwärterin sich schriftlich bewerben wollte, musste sie ein Porträtfoto sowie ein Ganzkörperfoto im Bikini an die Organisation senden. Wenn die aktuellen Kriterien der fortwährenden «Miss Universe Schweiz»-Wahlen miteinbezogen werden, muss eine Miss zudem kinderlos, unverheiratet und nicht geschieden sein. (vgl. Miss Universe Switzerland) Die optischen Anforderungen scheinen sich also an den gängigen westlichen Schönheitsidealen festzuhalten und die Relevanz des Zivilstandes erwartet eine reaktionäre Form der «Unschuld» der Kandidatinnen. Miss bezeichnet somit wortwörtlich «Fräulein», eine unverheiratete Frau. Diese Ausgangslage macht deutlich, dass es sich hierbei um Symptome von patriarchalen Strukturen handelt.

Ferner soll eine Miss Schweiz über eine gute Allgemeinbildung verfügen. Daher war es in der Vergangenheit eher ernüchternd, wenn Kandidatinnen auf einfache Fragen der Schweizer Geschichte keine Antwort fanden. Umso mehr wurde die Miss Schweiz 2015 Lauriane Sallin, die so gut wie alle Fragen problemlos beantworten konnte, für ihr Allgemeinwissen gelobt. (vgl. SRF 2015a)
Im Verlauf des Wettbewerbes und vor allem seit 2015 wurde die Wohltätigkeitsarbeit im Namen der Stiftung Corelina für das Amt der Miss Schweiz wesentlich. Eine Miss Schweiz musste sich also für das Wohl aller Menschen und hier spezifisch zugunsten von herzkranken Kindern einsetzen. Es muss dementsprechend eine Person sein, die sich für «das Gute» engagierte und «Gutes tun» wollte. (vgl. SRF 2014) Eine junge, adrette, angepasste Frau, die tut, was die Organisation ihr sagt. (vgl. Fehr 2020)
Die Schlagwörter für die Miss Schweiz sind folglich «Mode, Glamour und Schönheit mit Herz», so das SRF. Eine glamouröse, schöne Frau, die nicht kontrovers ist und sich für die «guten» Dinge einsetzt. (vgl. SRF 2014) Dabei sollte sie aber immer bodenständig bleiben, ansonsten würde sie wie die Miss Schweiz 2014 Laetitia Guarino für das «Jetset-Girl»-Leben kritisiert. Auch wenn es sich um einen Charity-Trip handelt, kann es zu Kritik kommen, wenn die Veranstaltungen in St. Tropez mit Champagner trinken verknüpft werden. (vgl. SRF 2015b)
Inwiefern «schadet» eine Miss der Gesellschaft?
Am Beispiel der USA wird klar, dass durch die Misswahlen ein weisses, heteronormatives und binäres Geschlechterverständnis reproduziert wird. Dadurch werden reaktionäre Rollenbilder gefestigt und es wird eine Ordnung geschaffen, welche Personen ausgrenzt und benachteiligt. Wie bereits dargelegt, handelt es sich aber um ein systematisches Problem und eine Misswahl ist lediglich eine kleine Erscheinung des Grossen und Ganzen. Darum kommen wir aufs Thema zurück und betrachten die kleine Erscheinung: Inwiefern sind Misswahlen problematisch?
Nun ja, da es sich hier um patriarchale Strukturen handelt, sollte es nicht ein allzu grosser Schock sein, dass die Kandidatinnen im Rahmen von Schönheitswettbewerben zu Objekten reduziert werden. Wie Ausschnitte aus dem SRF-Archiv zeigen, mussten bei der ersten vom Schweizer Fernsehen begleiteten Miss Schweiz-Wahl 1962 die Kandidatinnen in Unterwäsche und High Heels über den Laufsteg stolzieren, während der Moderator sämtliche Körpermasse der Kandidatinnen mit dem (vorwiegend cis-männlichen) Publikum teilt. Der Brust- und Taillenumfang in Zentimeterangaben hallten durch den Raum. Es erinnert stark an eine Viehschau.
Vor allem in den frühen Jahren des Wettbewerbs musste die Miss Schweiz eine Person mit einem netten Lächeln sein und nicht jemand, die den Mund aufmacht. Beispiel dafür ist die Moderation des Events. Der Moderator fragt eine Teilnehmerin nach ihrer Berufsbezeichnung, diese antwortet mit einem Wort und wird schliesslich dazu aufgefordert «No chli hin u här laufe da. Und nacher verschwinde». (vgl. Swiss Retro 2002: 9’10’’) Aufgrund dieser sexistischen Ausgangslage ist es kein Wunder, dass es im Jahr 2014 zum Protest von linken Aktivist*innen kam, die die Veranstaltung sinngemäss als einen «sexistischen Frauenzoo» bezeichneten (vgl. Der Bund 2014).
Bereits im Jahr 2011 verzichtete das Schweizer Fernsehen auf die weitere Ausstrahlung der Misswahl, da es zu einem negativen Trend bei den Einschaltquoten und zu zunehmender Kritik des Publikums kam. (vgl. SRF 2011) Danach wurde die Miss nur noch unregelmässig gekürt, was Jastina Doreen Riederer 2018 zur letzten Miss Schweiz gemacht hat. Diese musste ihre Krone jedoch einige Monate später wieder abtreten, weil sie gegen den Vertrag verstossen hatte (Der letzte Mister Schweiz wurde übrigens bereits im Jahr 2012 gewählt). Ende 2020 musste die Miss Schweiz AG schliesslich Konkurs anmelden und wurde mittlerweile endgültig aus dem Handelsregister gelöscht. (vgl. Zentralplus 2022)
Regionale Misswahlen wie die Miss Bern oder die Miss Emmental existieren in der Schweiz aber weiterhin. Die Miss Bern versucht sich aufgrund der Kritik anzupassen. Deshalb soll es nicht mehr vorwiegend um Äusserlichkeiten gehen, sondern es sei nun auch eine Wahl der «Female Leadership». Es ist folglich eine Anpassung an das unerreichbare Frauenideal der 2020er Jahre: smart, selbstbewusst, empowering und schön anzusehen. (vgl. Baumann 2021)
Fazit
Misswahlen sind faszinierend, weil sie eine kollektive und kulturelle Identität schaffen und repräsentieren. In ihrer frühsten Form dienten sie als öffentliches Lehrbuch dafür, wie sich weiblich-sozialisierte Personen zu verhalten haben. Dabei wurden Regeln (re-)produziert, die Ordnung schaffen sollen. Diese Regelungen sind herkunftsgebunden und unterscheiden sich von Land zu Land. In der Umsetzung dieser Ordnung werden gewisse Personen ausgegrenzt und andere klar bevorzugt.
Die patriarchalen Strukturen und die sexistischen Implikationen von Misswahlen wie der Miss Schweiz sind unübersehbar. Das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Identität und der Unterhaltung überwiegen aber und werden als wichtiger gewertet als die Kritik. Die Kritik hat es jedoch geschafft, die traditionelle Misswahl von der nationalen Bühne zu fegen. Es werden in der Schweiz dennoch nach wie vor regionale Misswahlen durchgeführt oder, wie bei der Miss Emmental, neue kreiert.
Artikelserie: Die Misswahl
Miss Emmental 2022: «Die andere Art der Misswahl» (Erscheint am Donnerstag)
Zum Thema Schönheit erschien auf JetztZeit
Spieglein, Spieglein in der Hand
Bibliografie
Annabelle (2012): Das Modehaus Schild wird Partner der Miss Schweiz Wahl 2013 [10.05.23].
Banet-Weiser, Sarah und Laura Portwood-Stacer (2006): “I just to be me again!” Beauty pageants, reality television and post-feminism, in: Feminist Theory, Vol. 7(2), London: Sage Publications. S. 255 – 272.
Baumann, Maurin (2021): Die Miss Bern wird Feministin – oder doch nicht?, in: Der Bund [23.01.23].
Der Bund (2014): Misswahl sorgte für Protest, in: Der Bund [23.01.23].
Duden (2023): Die Misswahl [17.01.23].
Fehr, Adam (2020): Die Schweizerin von heute soll «hot» sein, nicht hübsch [10.05.23].
Javaid, Maham (2022): Where has all the buccal fat gone?, in: Washington Post [17.01.23].
King-O’Riain, Rebecca Chiyoko (2008): Making the Perfect Queen: The cultural Production of Identities in Beauty Pageants, in: Sociology Compass, Vol.2., Nr.1, New Jersey: Blackwell Publishing Ltd. S.74-83.
Miss Universe Switzerland (2023): Anmeldung Miss Universe Switzerland [10.05.23].
Silva, Christiana (2022): There’s a shortage of diabetes drugs because of a TikTok weight loss trend [17.01.23].
SRF (2011): Schweizer Fernsehen verzichtet auf Miss-Schweiz-Wahl [10.05.23].
SRF (2014): Die nächste Miss bekommt weniger Lohn [10.05.23].
SRF (2015a): Allgemeinbildungslücke bei der «Miss Schweiz»-Wahl [10.05.23].
SRF (2015b): Miss Schweiz Laetitia Guarino: Charity-Lady macht auf Jetset-Girl [10.05.23].
Swiss Retro (2002): Miss Schweiz [23.01.23]. 6’18’’ – 20’42’’.
Zentralplus (2022): Die Miss-Schweiz-Wahlen sind nun definitiv Geschichte [10.05.23].
Zofinger Tagblatt (2022): Konkurs statt Krönchen: Die Miss-Schweiz-Wahlen sind endgültig Geschichte [20.05.22].
Bilder
Titelbild: Miss Schweiz 2019 – Lauriane Sallin (Quelle: Trend Magazine)
Beitragsbilder: Nr. 1 Miss USA 2019 – Nia Franklin (Quelle: Maryland GovPics)
Nr. 2 Miss Schweiz 2010 – Kerstin Cook 2010 (Quelle: obs/Lancia / Fiat Group Automobiles Switzerland SA)