Die meisten akademischen Bildungswege sind von einem gewissen Mass an Kontingenz durchzogen. So kommt es nicht selten vor, dass die Studienwahl entscheidend von Faktoren wie inspirierenden Lehrpersonen oder den Entscheidungen von Freunden beeinflusst wird. Obschon dabei sicherlich der Zufall eine bedeutende Rolle spielt, muss schlussendlich die Studierende selbst einen Entschluss treffen. Diese Wahl gestaltet sich für Studienanfänger zuweilen nicht einfach. Von Rafaela Schinner
Die Frage ist zunächst weniger was man studieren will, sondern vielmehr, wie man zu einer guten Entscheidung gelangt. Die naheliegendste Herangehensweise für rational vorgehende Menschen (oder jene, deren Bauchgefühl in dieser Frage uneindeutig oder äusserst schweigsam ist) ist wohl die Folgende: Man überlegt sich Kriterien, üblicherweise Interesse, Fähigkeiten oder Jobaussichten, und gewichtet diese. Anschliessend gilt es, verschiedene Optionen zu vergleichen und zu bewerten. Insbesondere bei geisteswissenschaftlich interessierten Menschen stehen einige dieser Kriterien nicht selten in Konflikt.
Da diese entscheidungstheoretische Methode gelegentlich an ihre Grenzen stösst, möchte ich in diesem Text eine alternative Art vorstellen, wie man über die Frage nach dem «richtigen» Studium nachdenken könnte.
Man könnte sich nämlich fragen: Was soll passieren, wenn ich einen Baum sehe?

- Will ich eher seinen Reifestand bestimmen können, oder wissen, woher das Wort «Baum» stammt?
- Möchte ich eher ob der Vollkommenheit der Schöpfung staunen oder mir überlegen, wie man am besten ein Baumhaus bauen könnte?
- Soll mein erster Gedanke einem Baumdiagramm gelten oder eher der Frage, wie viele Bäume noch dazu kommen müssen, bis es als Wald gilt?
- Möchte ich den Baum in erster Linie als natürliche Ressource betrachten oder soll er mich an ein Gedicht von Goethe erinnern?
- Oder strebe ich gar danach, möglichst viele dieser Perspektiven einnehmen zu können?
Wenn das Studium ernst genommen wird, handelt es sich nicht lediglich um die Erschliessung neuen Wissens und Jobmöglichkeiten, sondern prägt unsere Art, der Welt und uns selbst zu begegnen. Es verändert die Wahrnehmung unserer Umwelt und die Konzepte und Begriffe, mittels derer wir ihr begegnen. In der Auseinandersetzung mit einer bestimmten Disziplin erarbeiten wir uns eine Brille, die uns erlaubt, die Welt aus einer bestimmten Perspektive zu erfassen.
Wenn wir die Studienwahl als Entscheidung für eine Brille verstehen, hat sie nicht mehr nur mit Interesse, Fähigkeiten und Jobaussichten zu tun. Es geht nicht lediglich darum, ob ich lieber die Photosynthese begreifen oder ein Baumhaus bauen möchte, sondern vielmehr darum, was der Baum für mich bedeutet, wie ich ihn wahrnehme, für was er steht.
Das Problem bei dieser Herangehensweise besteht darin, dass es im Voraus schwierig ist zu wissen, wie es ist, eine bestimmte Brille zu tragen. Da hilft es, sich Zeit zu nehmen und in Vorlesungen verschiedener Fächer zu sitzen. So merkt man, dass die Unterschiedlichkeit in Vorgehen und gestellten Fragen nicht nur akademisch-methodisch, sondern weitaus umfassender ist. Auch wenn eine Vorlesung in einem fremden Fach keineswegs reicht, um sich eine neue Sichtweise anzueignen, so ist es doch ein spannender Weg, ein Gespür für die verschiedenen Brillen zu bekommen und sich bewusst zu werden, was ein Baum so alles bedeuten könnte.
Das Studium ist natürlich nur ein Teil unserer Brille – aber ein gewichtiger und einflussreicher. Schliesslich absolvieren wir im Idealfall nicht bloss eine Ausbildung, sondern werden dadurch als Menschen geprägt. Da macht es nur Sinn sich zu fragen, was für ein Mensch man gern werden möchte.
Zur Studienwahl erschien auch auf JetztZeit
– Weltgeschichtliche Betrachtungen mit Jacob Burckhardt – oder auch: Warum ich Geschichte studiere
– #MehralsMINT – in Geisteswissenschaften lernt man Anders
– Die missverstandenen Geisteswissenschaften
Titelbild: pixabey
Beitragsbild: Rafaela Schinner