Ein Rückblick auf die Geschichte Afghanistans von 1978 bis 2021 und was uns diese lehrt. Teil III – Das Monster, das die USA erschufen und schliesslich bekämpften. Von Florian Zoller
Im Teil I wurde der Beginn der afghanischen Tragödie erläutert. Es wurde nachgezeichnet, wie es zum Ende der friedvollen Monarchie kam und was die Gründe für die sowjetische Intervention waren.
Im Teil II wurde anhand des Sowjetisch-Afghanischen Krieges die Entstehung der Taliban nachgezeichnet.
1989 | 1989-1992 | 1992-1994 |
Letzter sowjetischer Soldat verlässt Afghanistan. | Die kommunistische Zentralregierung kann sich noch drei Jahre lang halten, wird dann 1992 endgültig gestürzt. | „Krieg aller gegen alle“: Diverse Mudschaheddin-Milizen kämpfen um die Vorherrschaft Afghanistans und Kabul wird hierbei komplett zerstört. |
1994-1996 | 1996-2001 | 2001-2021 |
Die Taliban treten zum ersten Mal in Erscheinung und erobern nach einer zweijährigen Revolte Kabul. | Die Taliban kontrollieren zwei Drittel des Landes, errichten dort das „Islamische Emirat Afghanistan“ und bekämpften den übrig gebliebenen Widerstand im Norden. | Nach 9/11 intervenieren die USA. Die Taliban wird zurückgedrängt und es wird die Republik Afghanistan ausgerufen. 2021 ziehen sich die USA zurück und die Taliban übernehmen nach nur einem Monat erneut die Macht. |
Der „Krieg aller gegen alle“ und die Schreckensherrschaft der Taliban
Zurück nach Afghanistan, wo 1989 der letzte sowjetische Soldat das Land verliess. Wie bereits die Briten ein Jahrhundert davor musste auch die UdSSR eine vernichtende Niederlage einstecken. So vernichtend, dass bald darauf der Desintegrationsprozess der Sowjetunion anfing. Ihre letzten Tage waren gezählt und der Kalte Krieg neigte sich seinem Ende zu. Vernebelt durch die in der Tat beeindruckend schnell einsetzende Demokratisierung der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, fabulierten Intellektuelle in den USA und in Westeuropa über das „Ende der Geschichte“. Sie vergassen, dass die Geschichte auch in den 1990er-Jahren weitergehen würde. Sie ging weiter auf dem Balkan, in Ruanda, in Somalia, im Kongo und selbstverständlich auch in Afghanistan. Dort ging der „ewige Krieg“ in die nächste, vermutlich schrecklichste Phase über. Eine Phase, die niemanden im Westen zu interessieren schien.
Die kommunistische Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan, nun angeführt durch Mohammed Nadschibullah, leistete gegen die aufrückenden Mudschaheddin tapferen Widerstand und konnte sich noch beachtliche drei Jahre halten. Doch ohne sowjetische Hilfe war der Kampf langfristig aussichtslos. Als dann Abdul Raschid Dostum, einstiger General der kommunistischen Armee, seine eigene Miliz aufbaute und die Seiten wechselte, waren die Tage der Demokratischen Republik Afghanistan gezählt. 1992 eroberten die Mudschaheddin die Hauptstadt und riefen den Islamischen Staats Afghanistan aus. Obschon anerkannt von den USA und der EG (Vorläuferin der EU), hatte dieses Gebilde keine wirklichen Merkmale eines Staates. Aus den einstigen Mudschaheddin sind in der Zwischenzeit Warlords geworden, die alle mit ihren Milizen um die Herrschaft über Afghanistan buhlten.
Die damals mächtigste Miliz war die Hizb-i Islami unter Gulbuddin Hekmatyar. Entgegen der ursprünglichen Abmachung zwischen den Milizen, die Macht untereinander aufzuteilen, strebte Hekmatyar nach diktatorischer Alleinherrschaft, wobei er massiv vom ISI unterstützt wurde. Von 1992 bis 1994 folgte vermutlich die schlimmste Phase des afghanischen Bürgerkriegs. Während Kabul im Sowjetisch-Afghanischen Krieg relativ verschont blieb, war die Hauptstadt nun Schauplatz eines unerbittlichen „Krieges aller gegen alle“. Täglich wurde die Stadt von allen Seiten aus bombardiert. Kabul war keine Stadt mehr, sondern Sinnbild absoluter Anomie und Zerstörung, ein von Gott und der Zivilisation verlassener Ort.
1994 ereignete sich in der südafghanischen Stadt Kandahar ein für das weitere Schicksal Afghanistans weitreichendes Ereignis. Ein einäugiger Wanderprediger namens Mohammed Omar, der in den Jahren zuvor als Mudschaheddin gegen die sowjetischen und afghanischen Kommunisten kämpfte, schloss sich mit ein paar Dutzend aus den pakistanischen Flüchtlingslagern und Medressen stammenden Freischärlern zusammen und gründete mit diesen eine neue islamistische Miliz. Sie nannten sich Taliban. Schnell eroberten sie Gebiet für Gebiet, bis sie 1996 die Hauptstadt einnahmen und dort das Islamische Emirat Afghanistan ausriefen.
Zwei Gründe waren ausschlaggebend dafür, dass die Taliban die übrigen Milizen so schnell wegfegen konnte. Einerseits waren die Taliban tatsächlich populär bei der afghanischen Zivilbevölkerung. Getrieben vom Paschtunwali, dem jahrhundertalten Ehrenkodex der paschtunischen Volksgruppe, verzichteten die Taliban – anders als die übrigen Mudschaheddin – auf wahllose Plünderungen von Dörfern. Vergewaltiger etwa wurden strikt bestraft. Ordnung und Disziplin schien in den von den Taliban eroberten Gebieten heimzukehren – ein Segen für eine von Bürgerkrieg geschundene Bevölkerung. Andererseits änderte der ISI seine Prioritäten. Wurde zuerst die Miliz von Hekmatyar vollumfänglich unterstützt, verschob sich dieser Support wegen dessen Erfolglosigkeit zu Gunsten der Taliban. Der ISI schleuste afghanische (und pakistanische) Kämpfer vom nahen Grenzgebiet nach Afghanistan ein, versorgte die Taliban mit US-amerikanischen Waffen und wickelte die militärische Ausbildung der Taliban-Milizionäre ab – alles grosszügig durch saudi-arabisches Geld finanziert. Der ISI erhielt freie Hand vom pakistanischen Staat, der mittlerweile von Zulfikar Bhuttos Tochter Benazir Bhutto und ihrer eigentlich eher sozialistisch angehauchten Pakistanischen Volkspartei regiert wurde. Pakistans Politik zielte darauf ab, ein von Islamabad abhängiges Afghanistan zu schaffen, um so die eigenen hegemonialen und geopolitischen Interessen in Zentralasien durchzusetzen und eine strategische Tiefe gegenüber Indien zu erlangen.
Die Taliban konnten jedoch nicht ganz Afghanistan erobern. Im Norden formierte sich Widerstand. Abdul Raschid Dostum und Ahmad Schah Massoud, Letzterer bis heute ein afghanischer Nationalheld, schlossen sich zur Vereinten Front zusammen. Diese Nordallianz konnte die Angriffe der Taliban erfolgreich abwehren und ein Restterritorium des immer noch international anerkannten Islamischen Staats Afghanistan bewahren. Das Islamische Emirat Afghanistan der Taliban wurde von lediglich drei Staaten international anerkannt, den Vereinigten Arabischen Emiraten und – wenig überraschend – von Saudi-Arabien und Pakistan.
In den von der Taliban beherrschten Gebieten wich die anfängliche Euphorie ziemlich schnell einer desillusionierenden Ernüchterung. Die Taliban-Kämpfer schienen den Afghanen so fremd zu sein wie einst die sowjetischen Invasoren. Weil in den pakistanischen Flüchtlingscamps aufgewachsen, sprachen sie andere Dialekte oder sogar nur Urdu (die Nationalsprache Pakistans). Schlimmer aber war das Regime, welches die Taliban installierten und gnadenlos praktizierten. Öffentliche Hinrichtungen und Verstümmelungen waren an der Tagesordnung. Musik, Filme, Theater und sogar Fotos wurden verboten. Fernsehergeräte und selbst die einzige Wetterstation Afghanistans wurden zerstört (angeblich sei es Sünde, das Wetter und somit Gottes Willen vorhersagen zu wollen). Sowohl das Halten von Haustieren wie auch das Feiern nicht-islamischer Feste wurden kriminalisiert. Selbst das Drachenfliegen, dieses genuin afghanische Kulturgut, durfte nicht mehr praktiziert werden. Das Tragen von Bärten wurde zur Pflicht für die Männer und es wurde sogar bestraft, wer zu den angegebenen Zeiten das Gebet vernachlässigte. Am schlimmsten traf es aber die Frauen. Diese durften das Haus nur noch in Begleitung eines Mannes verlassen und dies auch nur unter strikter Burkapflicht. Lautes Sprechen oder Lachen wurde ihnen untersagt. Frauen durften keine Berufe ausüben und die Schulpflicht für Mädchen wurde abgeschafft.
Die Taliban errichteten einen totalitären Staat und die geschundene afghanische Bevölkerung erlebte innert zwei Generationen eine ganze Bandbreite an politischen Systemen: Monarchie, Demokratie, Kommunismus und Islamismus. Die 1990er-Jahre in Afghanistan waren etwas vom Schlimmsten, was die Menschheitsgeschichte je erlebt hatte. Und trotzdem hat sich der Westen lange nicht für das unermessliche Leid der afghanischen Menschen interessiert.
Die US-amerikanische Besatzung (2001 bis 2021)
Doch das Treiben der Taliban sollte nicht unbemerkt bleiben. Kurz nach ihrer Machtergreifung 1996 wurde Mohammed Nadschibullah, der letzte Präsident der Demokratischen Republik Afghanistan, aus seinem Hausarrest in Kabul entführt und öffentlich gelyncht. 2001 wurden die Buddha-Statuen von Bamiyan, die damals höchsten freistehenden Buddha-Statuen der Welt, durch die Taliban gesprengt. Beides waren Aktionen, die harsche internationale Kritik evozierten.
Was das Taliban-Regime aber am meisten in den Fokus der Weltöffentlichkeit rückte, war deren Beherbergung Osama bin Ladens. War dieser in den 1980er-Jahren noch ein unbedeutender Mudschaheddin im Sowjetisch-Afghanischen Krieg, so stieg er unter Duldung der Taliban zum meistgesuchten Terroristen der Welt auf. Als 1998 die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi Ziel terroristischer Attacken wurden, geriet bin Laden, sein Terror-Netzwerk Al-Qaida und das von den Taliban beherrschte Afghanistan ins Visier der US-amerikanischen Aussenpolitik. Die USA unterstützten nun die Vereinte Front unter Ahmad Schah Massoud und forderte die Auslieferung bin Ladens. Da die Taliban mittlerweile unter dem Sog bin Ladens und seiner Al-Qaida standen und von diesen instrumentalisiert und noch weiter radikalisiert wurden, war eine Auslieferung ausgeschlossen. Eine US-Intervention schien immer wie realistischer zu werden. Massouds Geheimdienste warnten die USA vor einem möglichen Anschlag al-Qaidas. Am 9. September 2001 wurde er durch ein Selbstmordkommando der Taliban ermordet und zwei Tage später ereigneten sich an einem sonnigen Herbstmorgen in Mannhatten und Washington D. C. die Terroranschläge auf das World Trade Center und auf das Pentagon mit über 3‘000 Todesopfern. Der „ewige Krieg“ ging in die nächste Phase über.
Dass die USA nach 9/11 eine Reaktion zeigen mussten, war zu erwarten. Doch statt sich auf die Eliminierung bin Ladens und seines Terrornetzwerks al-Qaidas zu fokussieren, war der damalige US-Präsident George W. Bush von einer Art Messianismus getrieben, der Afghanistan in einen modernen Staat westlicher Provenienz zu transferieren versuchte. Dieser unter Bush praktizierte Bellizismus im Namen des Universalismus erreichte mit dem US-Einmarsch im Irak anno 2003 seinen Höhepunkt (oder besser gesagt Tiefpunkt).
Zwar schaffte es die Vereinte Front dank der Unterstützung des US-Militärs schnell, Kabul einzunehmen und die Taliban zu vertreiben, doch eine gewonnene Schlacht macht bekanntlich noch keinen gewonnenen Krieg. Die Taliban zogen sich in das unzugängliche afghanisch-pakistanische Grenzgebiet zurück und terrorisierten von dort aus die afghanische Zivilbevölkerung mit Selbstmordanschlägen. Die US-Amerikaner hatten keine wirkliche Chance, die sich in das Hindukusch-Gebirge zurückgezogenen Taliban-Guerillas zu schwächen. Die Ironie der Geschichte war nun, dass die Stinger, die einst aus den USA nach Afghanistan ausgeliefert wurden, um dort die Sowjets zu bekämpfen, nun gegen die US-Truppen verwendet wurden.
In Kabul wurde währenddessen die international anerkannte Islamische Republik Afghanistan mit Hamid Karzai als ihren ersten Präsidenten ausgerufen. Dieses Staatsgebilde hatte bis zu seinem Fall im August 2021 durchaus Erfolge vorzuweisen: Eine neue Verfassung wurde verabschiedet, demokratische Wahlen wurden abgehalten (inklusive friedlicher Regierungswechseln) und Frauen durften wieder am öffentlichen Leben teilnehmen. So hatten Frauen nun endlich hohe Positionen in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Kultur inne und trugen wesentlich zum Aufschwung in den urbanen Zentren Afghanistans bei. Die Islamische Republik Afghanistan und ihre Repräsentanten genossen aber alles in allem nicht besonders viel Popularität. Die politischen Eliten waren oft hochkorrupt und wurden als von den US-amerikanischen Besatzern fremdgesteuert empfunden. Die US-Amerikaner und ihre Verbündeten mochten zwar die unbeliebten Taliban kurzfristig vertrieben haben, doch machten sie sich ebenso Kriegsverbrechen an der afghanischen Bevölkerung schuldig. Und es ist eine Binsenwahrheit, dass fremde Soldaten langfristig in keinem Land dieser Erde toleriert werden – und schon gar nichts in einem Land ausrichten können, das schlicht unbesiegbar ist.
Buschs drei Nachfolger agierten zwar pragmatischer, waren aber auch nicht in der Lage, die Taliban entscheidend zu schwächen oder aus Afghanistan ein modernes Staatsgebilde mit einer eigenen schlagkräftigen Armee zu formen. Obama setzte – notabene als Friedensnobelpreisträger – auf die völkerrechtlich höchstumstrittene Taktik von Drohnen-Angriffen, doch konnte in seiner Amtszeit durch die Tötung bin Ladens immerhin Al-Qaida geschwächt werden. Trump realisierte zwar, dass in Afghanistan langfristig nichts zu holen ist, kündigte aber einen viel zu überstürzten Rückzug der US-Streitkräfte an und verhandelte – fatalerweise unter Ausschluss der offiziellen afghanischen Regierung – direkt mit den Taliban. Seinem exzentrischen Wesen gemäss zielte Trump auf den „great bargain“ ab: Ein gross inszenierter Friedensvertrag zwischen den USA und den Taliban würde schon den erhofften Frieden bringen. Diese Aussenpolitik mag zwar, ähnlich wie im Falle von Trumps Nordkorea-Politik, spektakulär erscheinen, jedoch ohne nachhaltigen Erfolg. Biden blieb nicht viel anderes als Schadensbegrenzung übrig. In einem Staate, welcher niemals hätte okkupiert werden dürfen, existiert kein richtiger Zeitpunkt eines Rückzuges. Vermutlich wird er die Obama-Doktrin der gezielten Drohnenschläge fortsetzen. Die USA haben es trotz 20-jähriger Intervention verpasst, zumindest eine schlagfertige afghanische Nationalarmee aufzubauen. Die Regierung der Islamischen Republik Afghanistans war für ihr Überleben von Anfang an hoffnungslos auf militärische Hilfe vom Ausland angewiesen.
Aber noch viel schlimmer: Während die schrecklichen Terroranschläge von 9/11 über 3000 unschuldigen Menschen das Leben kosteten, sorgte die darauffolgende US-Aussenpolitik für Hunderttausende von getöteten Menschenleben in Afghanistan und im Irak. Alles Menschenleben, die genauso wertvoll waren wie das derjenigen in Mannhatten. Die Massnahmen der USA führten zu einem Demokratieverlust im eigenen Land, einer Spaltung innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft, einer internationalen Polarisierung und schliesslich zu einem Erstarken des islamistischen Fundamentalismus und Terrorismus. Der sogenannte „Krieg gegen den Terror“ gleicht einer Gespensterjagd. Es war (und ist noch immer) ein Krieg gegen einen nicht greifbaren Feind, der nicht gezielt, orientierungslos zerstörerisch und selbstzerstörerisch wirkte, und gerade deswegen auch als eine der grössten politischen Verirrungen neuerer Zeit in die Geschichte eingehen wird. Wie weiter in Afghanistan? Im vierten und letzten Teil widmen wir uns dieser Frage.
Literatur (alle vier Teile)
Baraki, Martin: Die Talibanisierung Afghanistans. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 11/2001. S. 1342-1352.
Barfield, Thomas (2010): Afghanistan. A Cultural and Political History. Princeton Studies in Muslim Politics. Vol. 45. Princeton University Press, Princeton.
Gannon, Kathy (2006): I is for Infidel. Hachette Books, New York.
Rashid, Ahmed (2002): Taliban. Islam, Oil and the New Great Game in Central Asia. I. B. Tauris & Company Ltd., London & New York.
Saikal, Amin (2006): Modern Afghanistan. A History of Struggle and Survival. I. B. Tauris & Company Ltd., London & New York.
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