Ein Rückblick auf die Geschichte Afghanistans von 1978 bis 2021 und was uns diese lehrt. Teil II – Wie aus Bauern Mudschaheddin und aus Geflüchteten Taliban wurden. Von Florian Zoller
Im Teil I wurde der Beginn der afghanischen Tragödie erläutert. Es wurde nachgezeichnet, wie es zum Ende der friedvollen Monarchie kam und was die Gründe für die sowjetische Intervention waren.
1978 | 1979 | 1979-1989 |
Blutige Machtübernahme der Kommunisten | Ermordung Hafizullah Amins und Beginn der sowjetischen Intervention | Sowjetische Phase des afghanischen Bürgerkriegs (Afghanische Regierungstruppen und sowjetische Soldaten vs. Mudschaheddin) |
Der Sowjetisch-Afghanische Krieg
Der Krieg der Sowjetunion in Afghanistan war durch eine asymmetrische Kriegsführung, einem Stadt-Land-Graben sowie hohen Verlusten unter der Zivilbevölkerung gekennzeichnet. Kabul und die anderen Städte des Landes blieben von den Kampfhandlungen weitgehend verschont. Dies, weil die Kommunisten in den urbanen Zentren über viel Unterstützung verfügten und sich der Widerstand auf die ländliche Bevölkerung konzentrierte. Die Topographie Afghanistan hat die Mudschaheddin zur Guerilla-Taktik bewogen, was dazu führte, dass zwei Waffensystemen diesen Krieg prägten: Luftwaffen und Landminen.
Mit Artillerie, Kampffahrzeuge und Infanterie lassen sich in Afghanistan nicht viele Schlachten gewinnen. Ergo setzten die UdSSR auf einen ihrer elegantesten Waffen: Den Kampfhubschrauber Mil Mi-24, ein Wunder sowjetischer Ingenieurkunst. Dieser wendige und flinke Hubschrauber hätte den Sowjets möglicherweise den Sieg am Hindukusch gebracht. Dank Unterstützung der USA kamen die Mudschaheddin jedoch in den Genuss einer der effizientesten Waffen überhaupt: der FIM-43 Redeye (kurz Stinger). Diese Abwehrrakete ermöglichte es den Guerilla nicht nur, sowjetische Hubschrauber zu eliminieren, durch die reibungslose Lieferung der USA geriet die Sowjetunion in einen entscheidenden ökonomischen Nachteil: Eine Stinger zu produzieren kostet etwa 40‘000 US-$, ein Kampfhubschrauber vom Typ Mil Mi-24 hingegen 10 Mio. Jeder abgeschossene Hubschrauber zwang die UdSSR in einen teuren Produktionskreislauf, was sich finanziell langfristig nicht lohnte.
In einem asymmetrischen Krieg gegen Guerilla-Truppen, bei denen nicht zwischen Soldaten und Zivilisten unterschieden werden konnte, mussten die Sowjets deswegen auf eine neue, grauenhafte Taktik umdisponieren: Landminen. Die Sowjets setzten hierbei die PFM-1 Landmine flächendeckend ein. Diese Anti-Personen-Streulandmine geriet aufgrund ihrer Schmetterlingsform und der farbigen Lackierung in den Blickfang von Kindern, welche die Minen oft mit einem Spielzeug verwechselten. Dies führte zu vielen Verstümmelungen und Todesfällen unter den afghanischen Kindern. Die anti-sowjetische Propaganda überführte dies in den bis heute weit verbreiteten Mythos, dass die PFM-1 bewusst gegen Kinder eingesetzt wurde. (Auch wenn nichts auf eine sowjetische Intention hinweist, Kinder mittels Minen zu töten, ist dies selbstverständlich überhaupt keine Rechtfertigung, Minen erst einzusetzen.)
Die Opfer, welche die afghanische Zivilbevölkerung aufgrund dieses Krieges erleiden mussten, waren haarsträubend: ca. eine Million Todesopfer und sechs Millionen Geflüchtete. Eine ganze Generation von Männern, Frauen und Kinder wurde irreversibel traumatisiert. Die Männer, die zuvor als Bauern lebten, blieben zurück, kämpften als Mudschaheddin gegen die sowjetischen Besatzer und lebten unter Entbehrungen, die man sich kaum vorstellen kann. Dieser Krieg formte aus diesen Männern jene Warlords, die ab 1990 die Geschicke Afghanistans lenken sollten. Die Kinder flüchteten nach Pakistan, wo sie in Flüchtlingscamps unter Bedingungen aufwuchsen, die keiner Kindheit entsprechen. Auf diese geflüchteten Söhne soll ein besonderes Augenmerk geworfen werden, denn diese werden einst als Taliban nach Afghanistan zurückkehren.
Wer sind die Taliban? Versuch einer Erklärung
Der Schlüssel zum Verständnis der Taliban liegt in Pakistan. Geschichte und Geopolitik Pakistans helfen, uns dem Phänomen der Taliban anzunähern und zumindest den Versuch einer Erklärung zu wagen.
Indirekt spielte hierbei der Militärdiktator Mohammed Zia-ul-Haq, der die Geschicke Pakistans von 1977 bis 1988 lenkte, eine entscheide Rolle. Zia-ul-Haq ist die wohl umstrittenste Persönlichkeit der pakistanischen Geschichte – Fluch und Segen zugleich. Als General putschte er die demokratische Regierung von Zulfikar Ali Bhutto, liess diesen später hinrichten, verhängte das Kriegsrecht über Pakistan und warf damit den Demokratisierungsprozess Pakistans um Jahrzehnte zurück. Ihm gelang es jedoch, die territoriale Souveränität Pakistans zu bewahren. Als multiethnische Nation, dessen Grenzen künstlich durch die Briten festgelegt wurden und das immer wieder Staatsgebiete verlor – Kaschmir anno 1949 und Bangladesch (ehemals Ostpakistan) anno 1971 – ist dem pakistanischen Staate die Gefahr des inneren Zerfalls inhärent. Auch war die geopolitische Lage zu Regierungszeiten Zia-ul-Haq äusserst prekär: Im Osten Erzfeind und Atommacht Indien, im Südwesten eine von Saddam Husseins Irak unterstützte Sezessionsbewegung in Belutschistan, im Nordwesten der sowjetische Einmarsch Afghanistans, der auch für Pakistan eine grosse Bedrohung darstellte.
Zia-ul-Haq leitete folgende drei Massnahmen ein, um diesen existenziellen Bedrohungen Einhalt zu gebieten: Erstens trieb er das pakistanische Atomprogramm entschieden voran. Zweitens ordnete Zia-ul-Haq, persönlich ein sehr frommer Muslim, die Islamisierung Pakistans an. Durch die sogenannten Hudood Ordinances veranlasste er die Islamisierung des pakistanischen Strafrechts inklusive entsprechender Strafverordnungen (Auspeitschungen, Hände abhacken, Steinigungen). In der Islamisierung sah Zia-ul-Haq eine integrative Kraft, denn der Islam war mehr oder weniger der einzige gemeinsame Nenner, auf die sich die äusserst heterogene Bevölkerung Pakistans einigen konnte. Drittens initiierte er die massive Aufrüstung der afghanischen Mudschaheddin in deren Kampf gegen die Sowjetunion. Hierbei durfte er auf die Unterstützung der USA und Saudi-Arabiens zählen. Unter dem Geheimnamen Operation Cyclone wurde die Zusammenarbeit zwischen der CIA und dem pakistanischen Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence) zur Unterstützung der aufständischen Mudschaheddin ins Leben gerufen. Folgendes toxisches Gebräu mischte sich da zusammen:
USA: Die USA befanden sich im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion. Der Sowjetisch-Afghanische Krieg war ein typischer Stellvertreterkrieg und das Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ sowie der unter Präsident Ronald Reagan stark gepflegte Anti-Kommunismus waren Grund genug, die Mudschaheddin zu unterstützen. Die USA waren für die Waffenlieferungen zuständig.
Saudi-Arabien: Saudi-Arabien musste nach den Terroranschlägen in Mekka die islamistischen Strömungen im eigenen Land unter Kontrolle bringen. Dies sollte dadurch gelingen, indem man die eigenen fanatischen Landsleute in Kriegsgebiete wie Afghanistan gegen die „Ungläubigen“ kämpfen liess und zeitgleich mit den Petrodollars die Mudschaheddin finanziell unterstützte. Somit war Saudi-Arabien für die Finanzierung zuständig.
Pakistan: Pakistan fürchtete aufgrund der sowjetischen Invasion die eigene territoriale Integrität und sah die Mudschaheddin quasi als Bollwerk dagegen an. Pakistan war für deren militärische Ausbildung zuständig.
Organisation und Logistik wurde vom pakistanischen Geheimdienst ISI abgewickelt. War der ISI zuvor noch relativ unbedeutend innerhalb der pakistanischen Politik, so entwickelte er sich während der sowjetischen Invasion zu einem mächtigen Player, sozusagen einem Staat im Staate. Er war nicht nur verantwortlich für das militärische Training der Mudschaheddin, er wird später auch für den Aufstieg der Taliban mitverantwortlich sein.
Diese Dreierbeziehung zwischen der USA, Saudi-Arabien und dem ISI offenbart viel über die Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin, doch dies erklärt noch nicht die Entstehung der Taliban. Um die Geburt der Taliban zu verstehen, müssen wir uns an die Millionen geflüchteter Afghanen erinnern, die in den 1980iger Jahren ihr Land Richtung Pakistan verliessen.
Tausende geflüchteter, männlicher Jugendliche hatten nur eine Möglichkeit, die elenden Flüchtlingscamps zu verlassen, nämlich durch die pakistanischen Medresen. Medresen sind religiöse Schulen, an denen Islamwissenschaften (arabische Sprachlehre, Koran-Rezitation, Hadith-Interpretation), aber auch Mathematik und andere Fächer unterrichtet werden. Da der breiten pakistanischen Bevölkerung kein wirklich öffentliches Bildungssystem zur Verfügung steht, sind die kostenlosen und oft privat durch saudische Gönner finanzierten Medresen die einzige Möglichkeit für Kinder, eine Art Schule zu besuchen. Die traumatisierten Flüchtlingskinder erfuhren in den Medresen zum ersten Mal im Leben Struktur und Fürsorge. Die pakistanischen Medresen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet – in der hauptsächlich von Paschtunen bewohnten Provinz Khyber Pakhtunkhwa – wurden und werden zu einem grossen Teil von der Jamiat Ulema-e-Islam, einer ultra-konservativen islamistischen Partei, getragen. Kernbestand der von der Jamiat Ulema-e-Islam geführten Medresen sind einerseits die Lehre der Deobandi-Bewegung, einer äusserst orthodoxen Spielart des Islams, und andererseits der Paschtunwali, dem traditionellen, jahrhundertalten Ehrenkodex der Paschtunen. Die afghanischen Flüchtlingskinder erhielten nicht nur Schulunterricht, sondern wurden Opfer einer sektiererischen Indoktrination. Nebenbei ermöglichte der ISI, dass in den Medresen nicht nur Koranexegese, sondern auch militärische Trainings praktiziert wurden. Die einst geflüchteten Kinder Afghanistans wurden in den Medresen grossgezogen und schliesslich zu den Studenten dieser Einrichtungen. Das paschtunische Wort für „Student“ ist Talib. Diese Studenten sollten nach Afghanistan zurückkehren und dort anno 1994 die Taliban gründen.
Im nächsten Teil wird das Afghanistan der 1990iger-Jahre besprochen, als ein „Krieg aller gegen alle“ ausbrach und in welchem schliesslich die Taliban zum ersten Mal die Macht im Land ergriffen. Ebenso wird die US-Intervention behandelt.
Literatur (alle vier Teile)
Baraki, Martin: Die Talibanisierung Afghanistans. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 11/2001. S. 1342-1352.
Barfield, Thomas (2010): Afghanistan. A Cultural and Political History. Princeton Studies in Muslim Politics. Vol. 45. Princeton University Press, Princeton.
Gannon, Kathy (2006): I is for Infidel. Hachette Books, New York.
Rashid, Ahmed (2002): Taliban. Islam, Oil and the New Great Game in Central Asia. I. B. Tauris & Company Ltd., London & New York.
Saikal, Amin (2006): Modern Afghanistan. A History of Struggle and Survival. I. B. Tauris & Company Ltd., London & New York.
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