Gedanken zur Extremisierung der Gesellschaft am Beispiel Amerikas. Von Nicolas Neuenschwander

Betrachtet man die Entwicklungen in den letzten Jahren, dann kommt man nicht umhin festzustellen, dass der politische Diskurs im Allgemeinen mit immer gewaltsameren Mittel geführt wird. Man kommt nicht umhin festzustellen, dass es bei allen grösseren Demonstrationen der letzten Zeit (Paris, Hongkong und allgemein in den USA) meist zu gewaltsamen Ausschreitungen kam. Gleichzeitig werden auch immer häufiger politische Meinungen, die nicht der moralisch akzeptierten Meinung entsprechen, unter Umständen mittels Gewalt unterdrückt. In diesem Text soll sich dieser Thematik anhand des Beispiels der Attacke gegen Andy Ngo in Portland am 29. Juni 2019 angenommen werden.

Es kam an diesem Tag in Portland, Oregon, USA zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen zwei politisch als extrem einzustufenden Gruppierungen, den rechtsextremen «Proud Boys» und der linksextremen «Antifa». Dabei kam es zu offenen Strassenschlachten zwischen den beiden Gruppierungen. Dabei wurde der Journalist Andy Ngo von vermeintlichen Mitgliedern der Antifa physisch attackiert. Er wurde geschlagen, mit Milchshakes beworfen und mit weiteren physischen Aggressionen eingedeckt. Er selbst war zumindest in dem mir bekannten Video absolut friedlich und in keiner Weise aggressiv oder eine Bedrohung für andere Menschen.

Rechtfertigen moralisch verwerfliche Ansichten Gewalt?

Betrachtet man anschliessend die Reaktionen der Online-Presse sowie von anderen Online-Medien wie Reddit, Twitter und Youtube so kristallisiert sich ein sehr bipolares Bild heraus. Es scheint in den Reaktionen nur zwei Narrative zu geben. Was hingegen auffällt, ist die Tatsache, dass es vor allem auf Twitter einen regen Support für diese Aktionen gegen jemanden gibt, der sich selber als Journalist bezeichnet und auch für ein Online-Portal schreibt. Es existiert der Hashtag #AndysNoJournalist.

Es scheint unter den Befürwortern der Attacke der Glaube zu herrschen, dass Andy Ngo diese Attacke aufgrund seiner politischen Gesinnung, bzw. der Wahrnehmung dieser von Seiten seiner Gegner sozusagen verdient hätte. Doch selbst wenn Andys Ansichten moralisch verwerflich sein sollten: rechtfertigt dies den Einsatz physischer Gewalt?

Betrachtet man die Videoaufzeichnungen aus Portland hat das Gezeigte mit politischem Diskurs gar nichts mehr zu tun. Jedoch scheinen gewisse Teile der Gesellschaft der Meinung zu sein, dass Individuen, welche entweder vermeintlicher oder bewiesenermassen einer Meinung sind, die als moralisch und/oder ethisch falsch empfunden wird, zurecht mittels Gewalt niedergehalten werden. Worin diese legitime Gewalt hingegen besteht, da unterscheiden sich die Meinungen in den USA. Ist es Gewalt, wenn man politischen Gegnern einen Milkshake anwirft? Wo wird da die Grenze gezogen?

Gerade im Lichte des Twitter-Statements von Seiten des Portland Police Departments, wonach die geworfenen Milkshakes mit schnelltrocknendem Zement versetzt worden seien. Dieses steht bis anhin jedoch ohne weitere Beweise als ein einziges Statement im Raum. Sollte sich dieses jedoch bewahrheiten, so ist nicht mehr von einer ungefährlichen Dummheit zu sprechen, sondern vom konkreten Versuch, einem Vertreter einer anderen Meinung körperlichen Schaden zuzufügen.

Phänomen des «Milkshaking»

Das Phänomen des «Milkshaking» begann im Kontext der Brexit-Diskussion in Grossbritannien, wo mehrere Vertreter der den Brexit befürwortenden Parteien in Grossbritannien mit Milkshakes beworfen wurden. Gewisse gesellschaftliche Strömungen in den USA scheinen dieses Verhalten zu befürworten, und so ist es nicht verwunderlich, dass dieses Phänomen sich nun auch in den USA zeigt. Müssten wir uns als Gesellschaft nicht gegen jegliche Form der Gewalt im Sinne der Meinungsunterdrückung stellen?

Oder gibt es Meinungen, die es verdient haben, mittels Gewalt bekämpft zu werden? Wo können wir als Historikerinnen bewusst Einfluss auf diese Fragen nehmen? Ist es überhaupt die Aufgabe von uns als angehenden Historikerinnen Einfluss auf diese Fragen zu nehmen oder sie gar zu beantworten?

“Looking to the past to shape the future offers an important call
to historians, historical sociologists, historical geographers, and
information scientists in particular. It also provides a roadmap for
thinking prospectively to all of those institutions – government,
finance, insurance, informal, self-organised, citizen-scientific, and
other – that we call upon to guide us as we seek the road to better
futures.»


Obenstehendes Zitat aus der Konklusion des kritisch zu bewertenden «The History Manifesto» von Guldi und Armitage könnte trotz der grundsätzlich fragwürdigen faktischen Absicherung der These trotzdem einen Aufschluss über mögliche Antworten zu dieser Thematik geben. Können wir als Gesellschaft nicht aus unserer Vergangenheit lernen, um bereits begonnene Fehler nicht zu wiederholen?

Die Rolle der Historikerinnen

Müssten wir uns als Gesellschaft nicht gegen jegliche Form der Gewalt im Sinne der Meinungsunterdrückung stellen? Oder gibt es Meinungen, die es verdient haben, mittels Gewalt bekämpft zu werden? Wo können wir als Historikerinnen bewusst Einfluss auf diese Fragen nehmen? Ist es überhaupt die Aufgabe von uns als angehenden Historikerinnen Einfluss auf diese Fragen zunehmen oder sie gar zu beantworten?

Angesichts der Ereignisse der letzten Jahre und der Ausbreitung von extremistischen Ansichten jeglicher Art und den damit verbundenen negativen Effekten rücken diese Fragen in den Vordergrund. Denn die Geschichte hat uns zu genüge gezeigt, was passieren kann, wenn man nichts gegen die Ausbreitung von Extremismus unternimmt.

Bild: Symbolbild

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