Ein Problem der Mediävisten? Von Iulia Malaspina
Neulich war ich daran, mich mit einer bestimmten Periode des Mittelalters auseinanderzusetzen. Ich versuchte, zu rekonstruieren, was in einem bestimmten Land in zwei besonders dunkeln Jahrhunderten passiert ist. Dunkel waren diese Jahrhunderte, weil sie fast nichts hinterlassen haben – nämlich:
- Eine schriftliche Quelle – eine! In zweihundert Jahren… – die zudem total verworren ist und in apokalyptischen Tönen von Katastrophen, Seuchen und Unglücken spricht.
- Ein paar Knochen hier und da, die zudem auf tausend verschiedene Weisen begraben sind.
- Ein Paar Glasscherben und zwei oder drei Broschen. Das war’s.
Wie soll man aus diesen Quellen etwas schliessen wollen? Die Schriftquelle ist befremdend und vom ersten Wort an wird man beschlichen von einem vagen Misstrauen gegenüber dem Verfasser. War er irgendwie ein einsamer Mann, war er zu fantasievoll, war er frustriert, hatte er was Besonderes geraucht? Oder hat er tatsächlich die Wahrheit gesagt, oder immerhin eine Annäherung davon? Und die Knochen? Was heisst, das gewisse nach Norden, andere nach Osten ausgerichtet sind? Dass manche länger sind als andere? Und was die materiellen Befunde betrifft, hätte eigentlich auch ein Alien kommen können, seine drei Broschen in den Boden gepflanzt haben und dann weitergereist sein. Ihre Aussage ist irgendwie beschränkt.
Der verzweifelte Student oder die verzweifelte Studentin wissen mittlerweile, wie sie sich retten können, wenn sie sich überfordert und unterqualifiziert fühlen: Sie flüchten in die bunte und wundersame Welt der Sekundärliteratur, wo alles hübsch da steht und die kompliziertesten Dinge von Experten so gut erklärt werden, dass man sie nur noch paraphrasieren muss. Was sagt dann die Sekundärliteratur zu unserer Periode?
Alles und das Gegenteil von Allem. Wunderbar. Ich musste staunen, wie unterschiedlich die Narrative der Forschenden sind, die sich mit diesen Jahrhunderten beschäftigen. Die einen ignorieren die skurrile Schriftquelle einfach und behaupten genau das Gegenteil von dem, was in ihr steht. Die anderen messen die Knochen und meinen, 54% davon seien länger und 47% kürzer. Abgesehen davon, dass ein rechnerischer Geist merkt, dass da irgendwie ein 1% übrig ist: Was genau bringen diese Messungen? Und was die Glasscherben betrifft, so sagen die einen, sie seien typisch für eine gewisse Ethnie während die anderen meinen, dass es so etwas wie eine Ethnie ja gar nicht gibt.
Die Quellen sind also die gleichen, aber es scheint, dass jeder ein bisschen damit macht, was er will. Nicht aus böser Absicht, sondern aus Not. So ist es halt mit den «dark ages». Die spärlichen Überreste sind nicht genug, um die erwartete Erklärung der untersuchten Zeit zu geben, deshalb fügt jeder sein persönliches Gewürz hinzu. Irgendwann muss das aber frustrierend werden, vor allem, wenn man sich bemüht, irgendetwas plausibles herauszufinden und dabei knappe drei Sätze aneinanderreihen kann, während die Kollegen ganz spannende und fantasievolle Narrative einfach so produzieren, ohne sich all zu sehr auf die Quellen zu stützen, genau aus demselben Grund: Weil es zu wenig sind.
Aus diesen Überlegungen kam ich zur deprimierenden Infragestellung der Sinnhaftigkeit meiner ganzen Untersuchung. Warum sollte ich mich mit einer Periode beschäftigen, die so schlecht dokumentiert ist? Um ehrlich zu sein: Niemand, auch der beste Historiker der Welt, wird ohne Zeitmaschine je herausfinden, was in diesen zweihundert Jahren menschlicher Geschichte passiert ist. Es ist unmöglich. Warum versuchen es die Leute trotzdem? Klar ist es spannend und manchmal sogar lustig, sich zu fragen, ob der Verfasser der Quelle ein Heuchler oder ein Prophet war, die eigene Fantasie werken zu lassen und über die Geschehnisse zu werweissen. Aber wenn man über so wenige Quellen verfügt, riskiert man nicht bald, in ein vollkommen bodenloses Feld einzutreten und die eigene Zeit und Energie einfach für Nichts zu verschwenden?
Wie sieht es dann mit der Gegenwart aus? Wir Modernen von heute haben zwar den grossen Vorteil, in der Zeit selbst zu leben, die wir zu verstehen versuchen. Wir müssen nicht wie der Mediävist zu Jahrhunderten zurück, die ganz weit weg liegen und auffallend schlecht dokumentiert sein können, um zu wissen, was in einer Periode passiert ist. Wir selbst sind Zeugen unserer Zeit. Zudem verfügen wir über Quellen, die auf quantitativen Daten und modernen Messungssystemen beruhen. Produkte unserer schönen, klaren und systematischen Welt. Allerdings heisst das nicht, dass der Gegenwartshistoriker oder der Politiker die Wahrheit auf dem silbernen Tablett serviert bekommen. Sie können auch nicht schnell und problemlos die Wirklichkeit erklären. Nehmen wir zum Beispiel eine beliebige Statistik, wie die Beschreibung der Schere zwischen Arm und Reich in der Schweiz.[1] Je nach Gesichtspunkt kann man entweder den Unterschied zwischen Arm und Reich unterstreichen, oder internationale Daten miteinander vergleichen und hervorheben, dass der allgemeine Wohlstand in der Schweiz sehr hoch ist. Was ist dann besserungsbedürftig und was gut? Soll man den Unterschied ändern, oder den bestehenden Wohlstand unterstützen?
Um eine Position über die eigene Zeit einzunehmen, genügt auch heute die präziseste Statistik nicht. Die Daten sind stumm und «dark». Es steht dem Menschen zu, etwas mit dieser Dunkelheit anzufangen. Der Mediävist, der in seinem Elfenbeinturm Theorien über vergangene Zeiten brüht, macht im Endeffekt einen sehr aktuellen Beruf: Anhand von Daten zieht er Schlüsse – und dort, wo es nötig ist, weil es nicht anders geht, interpretiert und gewürzt er noch ein bisschen. Also darf ich mich weiterhin und ohne Gewissensprobleme mit meiner Mittelalterperiode beschäftigen.
Bild: Quelle
[1] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/soziale-situation-wohlbefinden-und-armut/ungleichheit-der-einkommensverteilung.html.