Wo liegt die Grenze zwischen Ost- und Westeuropa – und wo dazwischen befindet sich Tschechien? Vor welchen Herausforderungen steht die Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) und wie wird der Krieg in der Ukraine die Wahrnehmung über Osteuropa verändern? Auf der Suche nach Antworten begeben wir uns in das Büro der Präsidentin des tschechischen Parlaments, Markéta Pekarová Adamová, und sprechen mit ihr über die Zukunft der europäischen Integration. Von Tomas Marik
Markéta Pekarová Adamová ist 1984 in Litomyšl (Tschechien) in einer Arbeiterfamilie auf die Welt gekommen. Sie absolvierte ihr Studium in Prag und Brünn und engagierte sich ehrenamtlich in diversen Hilfsorganisationen, unter anderem in Marokko, Serbien oder Armenien. 2009 trat sie der konservativen Mitte-Rechts Partei TOP 09 bei, der sie seit 2019 vorsitzt. 2013 wurde sie zum ersten Mal in das Abgeordnetenhaus der Tschechischen Republik gewählt. Nachdem die konservative Koalition aus Christdemokraten, TOP 09 und ODS die Parlamentswahl 2021 gewonnen hat, sitzt Pekarová Adamová seit November desselben Jahres dem Abgeordnetenhaus vor. Damit hat sie aus Sicht der tschechischen Verfassung das dritthöchste Amt des Landes inne.
Frau Präsidentin Pekarová Adamová, in welchem politischen und sozialen Raum befindet sich heute die Tschechische Republik in Europa?
Der Raum Mitteleuropa ist in den letzten Jahren zu einer wichtigen Bühne für die internationale Politik geworden, insbesondere seit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine im letzten Jahr. Die Tschechische Republik und weitere Länder in Mitteleuropa bestimmen nun die Richtung der Unterstützung der Ukraine auf ihrem Weg zum Sieg über Russland. Die Bedeutung des Raumes Mitteleuropa wird nach einem Sieg der Ukraine steigen, insofern die Ukraine ein neues Mitglied der Europäischen Union wird, was ich sehr hoffe.
Gleichzeitig müssen jedoch auch die neuen Risiken und Bedrohungen erwähnt werden, die wir in der Tschechischen Republik und der Region Mitteleuropa beobachten können. Abgesehen von wirtschaftlichen Problemen, dem Anstieg des Populismus und der Desinformationsaktivitäten handelt es sich vor allem um die anhaltende Erosion der Demokratie in Ländern wie Ungarn. In Polen und der Slowakei stehen wichtige Parlamentswahlen bevor, bei denen die Bürger auch über die künftige Ausrichtung der liberalen Demokratie entscheiden werden.
Die Tschechische Republik hat sich nach dem Fall des Kommunismus zum Ziel gesetzt, ein vollwertiges Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu werden, und es scheint, dass sie diesen Weg erfolgreich verfolgt. Neben wirtschaftlicher und politischer Integration sollte auch eine soziale Integration folgen. Wie gut gelingt es der tschechischen Gesellschaft und Politik, sich hinsichtlich gemeinsamer europäischer Werte zu integrieren?
Unser Land war in der Region einer der wenigen echten Demokratien mit einer kapitalistischen Wirtschaft. Dies wurde durch die nationalsozialistische Besatzung und durch das kommunistische Regime unterbrochen. Nach der Samtenen Revolution haben wir, nun als Tschechische Republik, uns das Ziel gesetzt, “nach Europa zurückzukehren”, was wir wir erreicht haben.
Jetzt stehen wir vor denselben politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen wie andere EU-Mitgliedstaaten, darunter wirtschaftliche Probleme, der Anstieg des Populismus und der Klimawandel. Was die gemeinsamen europäischen Werte betrifft, so teilen wir diese nicht nur, sondern tragen auch aktiv zu ihrer Gestaltung als vollwertiges Mitglied der EU bei.
Das von Ihnen geleitete Parlament hat sowohl die Istanbul-Konvention nicht ratifiziert als auch die Ehe für alle nicht eingeführt. Gleichzeitig äussern sich einige Abgeordnete sehr beleidigend gegenüber verwundbaren Gruppen wie Homosexuellen oder Roma und die Mehrheit der Abgeordneten steht der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten sehr negativ gegenüber, was die europäische Solidarität gefährden könnte. Strebt die tschechische Politik und Gesellschaft überhaupt eine Integration in die “westliche Gesellschaft” an?
Ich persönlich unterstütze eindeutig die Ratifizierung der Istanbul-Konvention und die Einführung der Ehe für alle. Bezüglich der Istanbul-Konvention ist jedoch zu beachten, dass die meisten Maßnahmen zur Bekämpfung und Prävention von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt bereits in der tschechischen Gesetzgebung verankert sind. Derzeit gibt es jedoch noch keinen Konsens über die Istanbul-Konvention in der tschechischen politischen Landschaft, weshalb sie noch nicht ratifiziert wurde. Ich hoffe jedoch, dass sich das ändern wird.
Darüber hinaus verurteile ich jegliche beleidigenden Äußerungen gegenüber Homosexuellen, Roma oder anderen Minderheiten. Solche Ansichten gehören keinesfalls zu unserer Gesellschaft, auch wenn wir in der Tschechischen Republik immer noch mit ihnen konfrontiert sind. Ich persönlich versuche, den Minderheiten Gehör zu verschaffen.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Integration Tschechiens in die EU mit allem, was es mit sich bringt, und der sehr niedrigen Beteiligung der tschechischen Wählerschaft an den Europawahlen? Und was müsste geschehen, damit das Interesse der Gesellschaft an europäischer Politik steigt?
Die relativ niedrige Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ist ein EU-weites Phänomen. Es ist jedoch wahr, dass, obwohl die Wahlbeteiligung in der Tschechischen Republik bei den letzten Europawahlen im Jahr 2019 gestiegen ist, die Wahlbeteiligung jedoch immer noch unter dem Durchschnitt der Europäischen Union liegt. Unsere Priorität besteht darin, die Briefwahl einzuführen, was zweifellos mehr Wähler anziehen würde.
Als Hauptursache für die niedrige Wahlbeteiligung sehe ich das mangelnde Wissen der tschechischen Bürgerinnen und Bürger über die aktuellen Aktivitäten des Europäischen Parlaments. Die Fernsehnachrichten, Zeitungen und Online-Nachrichtenportale berichten täglich über laufende Gesetzesvorlagen und die Aktivitäten der Regierung und des Parlaments. Wie oft erfahren jedoch die durchschnittlichen tschechischen Bürgerinnen und Bürger etwas über die Aktivitäten des Europäischen Parlaments und unserer europäischen Abgeordneten? Ich bin sicher, dass ein besseres Bewusstsein über die Tätigkeit der Europäischen Union und unserer europäischen Abgeordneten zusammen mit der Einführung der Briefwahl sich positiv auf die Wahlbeteiligung in der Tschechischen Republik bei den Europawahlen auswirken wird.



Befürchten Sie, dass die Mitgliedschaft der Tschechischen Republik in der Visegrád-Gruppe (V4) aufgrund “illiberaler” Tendenzen in Ungarn und Polen den Ruf der Tschechischen Republik in Europa gefährdet?
Die Visegrád-Gruppe hatte in der Geschichte ihre Rolle und ihre Bedeutung hing immer von der Fähigkeit dieser Länder ab, in einzelnen politischen Themen Einigkeit zu finden. Derzeit hat die Relevanz und die gemeinsamen Aktivitäten der Visegrád-Gruppe, insbesondere aufgrund der Situation in Ungarn, abgenommen.
Für die Rolle der V4 in den kommenden Jahren werden die bereits erwähnten Parlamentswahlen in der Slowakei und in Polen im Herbst dieses Jahres entscheidend sein. Insbesondere wichtig sind die Wahlen in der Slowakei, bei denen ein Sieg der euroskeptischen und der antiwestlichen Opposition droht. Die Parlamentswahlen in beiden Ländern werden wir aufmerksam verfolgen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir auch andere Kooperationsformate haben, wie die Slavkov-Troika, die Bukarest-Neuner oder die Drei-Meere-Initiative. In diesen sind wir sehr aktiv. Was die V4 betrifft, wird die Zeit zeigen, wie sich die Situation entwickeln wird…
Glauben Sie, dass die negative Wahrnehmung Osteuropas durch den Krieg in der Ukraine verändert werden kann und möglicherweise sogar die unsichtbare Grenze Osteuropas aus der Zeit des Kalten Krieges hinter die Grenzen der Ukraine hinaus verschoben werden kann?
Ja, das wäre ein erwünschtes Ergebnis der Reaktion von Ländern wie der Tschechischen Republik und Polen auf den aktuellen Konflikt. Der Sieg der Ukraine über Russland ist von entscheidender Bedeutung für die Sicherheit und die vielversprechende Zukunft Europas. Deshalb tun wir mit unseren Verbündeten in der Europäischen Union und der NATO alles, um der Ukraine zu einem Sieg über die russische Aggression zu verhelfen. Wenn die Ukraine dann Mitglied der Europäischen Union wird, wird diese unsichtbare Grenze Osteuropas tatsächlich über die Grenzen der Ukraine hinaus verschoben werden.
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