«Wie kann ich mich mit Gott identifizieren, wenn Gott nicht wie ich ist, nämlich schmerzend und vom Leben überfordert?»

Aufgewachsen in einer Freikirche, Austritt mit 16 Jahren, Rückkehr zum Glauben mit 30. Sarah Staub-Strehler religiöse Biographie liest sich widersprüchlich – und das passt zu dieser engagierten Theologin und Kuratorin, welche die unangenehmen Fragen nicht scheut und die Finger in die Wunden legt, die wehtun. Ein sehr persönliches Gespräch über die großen Fragen rund um Gott und die Welt, Freikirchen, den Umgang mit einer chronischen Krankheit sowie Behindertennegativität im Christentum und in unserer Gesellschaft. Von Florian Zoller

Liebe Sarah, du bist in der Innerschweiz in einer freikirchlichen Familie aufgewachsen. Wie hast du diese Phase deines Lebens in Erinnerung? Was für ein Bild von Gott und vom Glauben hattest du? 

Ich habe daran zwiespältige Erinnerungen. Einerseits erlebte ich eine sehr behütete Kindheit mit viel Geborgenheit. Andererseits schwang immer etwas Ungreifbares, ja Unheimliches mit. Gott war zwar nah, gleichzeitig aber auch furchterregend, zornig, eifersüchtig und damit nicht gut zu verstehen.

Mit 16 Jahren hast du die Freikirche schließlich verlassen. Was waren die Gründe für deinen Ausstieg? Wie hat dein Umfeld darauf reagiert?  

Hauptgrund waren die Glaubensdogmen, die mit meinen Erfahrungen und Erkenntnissen nicht übereinstimmten: Ich fand nicht, dass «Ungläubige» oder Andersgläubige schlechter wären, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ein gerechter Gott sie alle in die Hölle schicken würde. Auch leuchteten mir die Theorien aus der Schule mehr ein als z. B. der Kreationismus. Und ich war damals bereits zwei Jahre in einer Beziehung mit einem formellen, aber nicht praktizierenden Christen, welchen ich nicht zu bekehren vermochte. Ich lebte konstant unter immenser Spannung – das Bedürfnis, einfach Teenager zu sein, biss sich mit dem inneren Druck von christlich-gottgefälliger Lebensführung, Evangelisation und Endzeiterwartungen.

Mein Umfeld reagierte auf meinen Ausstieg unterschiedlich: Der nicht-freikirchliche Teil war erleichtert, meine Eltern bestürzt, die Gemeinde nahm es zur Kenntnis. Ich denke, damals wurde viel für meine Rück- und Umkehr gebetet…

Wie war für dich diese post-christliche Zeit nach deinem Freikirchenausstieg mit 16? Hast du dich endlich frei und glücklich gefühlt oder warst du eher orientierungslos? 

Ich war befreit, aber gleichzeitig auch orientierungslos. Ich trug in mir in fast jedem Lebensbereich ein unfassbar schlechtes Gewissen und viel, viel Scham.

Dein spiritueller Werdegang verlief sehr unkonventionell: aufgewachsen in einer Freikirche, Austritt mit 16, dann sozusagen «Rekonversion» mit knapp 30 Jahren. Wie kam es, dass du wieder zum Glauben gefunden hast und erneut einer Freikirche, dieses Mal der methodistischen Kirche, beigetreten bist? 

Das waren eben die Gebete der Angehörigen von früher, die nun Wirkung zeigten (lacht)! Spaß beiseite: Ich denke, es folgte einer logischen Konsequenz, denn trotz Ausstieg hatte ich nie dekonstruiert. Ich habe das christliche Glaubenskostüm mit 16 einfach zuhinterst in den Schrank gehängt und es zu verdrängen versucht. Kurz vor 30 kamen aber neue Lebens- und Existenzfragen auf und ich merkte, dass Verdrängung nicht die beste Strategie ist. Bei den Methodist*innen landete ich eher aus Zufall – heute bin ich dankbar dafür. Die EMK (Evangelisch-methodistische Kirche) ist die einzige Freikirche, die auch Teil der EKS (Evangelisch-reformierte Kirche der Schweiz) ist und das spiegelt meines Erachtens deutlich das Verständnis der UMC(United Methodist Church): Sie ist nicht aus einer Bekenntnissituation entstanden, sondern aus der Notwendigkeit der Gerechtigkeit in einer, damals wie heute, sehr ungleichen und ungerechten Welt. Eine Kirche, die kein eigenes Glaubensbekenntnis hat, dafür aber ein 48-seitiges Soziales Bekenntnis, in welchem vom christlichen Umgang mit Weltraumschrott ebenso gesprochen wird wie vom Umgang mit Sterbehilfe – und dies alles auf eine methodische und empathisch-vorsichtige sowie alle Seiten berücksichtigende Weise. Das sprach mich an. Die UMC ist «die Kirche dazwischen» (zwischen Landes- und Freikirchen, zwischen Verantwortung, Frömmigkeit, Tradition und Moderne) – ganz so, wie ich mich oft fühle: dazwischen.

Du hast es bereits angesprochen, aber wer sind die Methodist*innen genau? Warum fühlst du dich jetzt wohler in dieser Glaubensgemeinschaft als davor in derjenigen Freikirche, in der du aufgewachsen bist?  

Das wäre in etwa so, als würde ich Mittelerde beschreiben: Methodist*innen lieben Gesang und Liturgie wie die Elben, Geselligkeit und Gemeinschaft wie die Hobbits, Edelmut und Tugend wie die Menschen, Wissen und Erkenntnisse wie die Zauberer – dabei sind sie in ihren Entscheidungen so umsichtig und bedächtig wie die Ents. Es gibt nicht «die» Methodist*innen, doch was uns weltweit eint ist das große Anliegen für soziale Gerechtigkeit. Das fängt schon bei den Gründungsmitgliedern an, die 1732 (!) in den Fokus der Öffentlichkeit gerieten, weil sie sich für die Freilassung eines in Oxford wegen Homosexualität eingesperrten Mannes aussprachen. Bis heute eint uns das Einstehen für Gerechtigkeit. So sagt man in England bis heute, dass die Arbeiterpartei mehr dem Methodismus zu verdanken hat als dem Marxismus. 

Wie würdest du einem Agnostiker wie mir erklären, wer oder was Gott ist? Oder anders gefragt: Was bedeutet Gott für dich persönlich? 

Von Agnostikerin zu Agnostiker eine ehrliche Antwort: Ich weiß es nicht. Am ehesten wäre Gott für mich wie ein Pilz – ein alles durchdringendes Wesen, das außerhalb unseres menschlichen Denkvermögens existiert und diese Welt belebt und alles miteinander verbindet. Oder wie Wasser, ohne das wir nicht leben können, aus dem wir geboren werden und dass, wenn wir es anderen schenken, Leben rettet und heilt. Gott taucht in vielen Formen, Färbungen und Begegnungen auf und ich kann immer nur erahnen, wie Gott ist. Ich bleibe wohl Zeit meines Lebens auf der Suche.

Meinen eigenen, sehr kurzen Erfahrungen in einer Freikirche gemäß habe ich die Menschen dort als sehr freundlich, harmoniebedürftig und angepasst in Erinnerung. Diese Konstellation kann kurzfristig sehr angenehm sein, langfristig scheinen aber Konflikte eher vermieden statt angesprochen zu werden. Außerdem setzt man sich oft selber unter Druck, um ja niemanden in so einer Gemeinschaft zu enttäuschen. Speist sich dieses rudimentäre Psychogramm meinerseits aus meinen sehr subjektiven Erfahrungen oder beschreibe ich da tendenziell doch den Idealtypus einer Freikirchengängerin/ eines Freikirchengängers? 

Das würde ich vorsichtig bestätigen, wobei es wirklich sehr viele unterschiedliche Freikirchen gibt und in meiner Wahrnehmung der Mensch per se harmoniebedürftig und angepasst ist – das ist also nicht ein Phänomen in Freikirchen allein. Ich beobachte aber eine tendenzielle Homogenisierung in Freikirchen: Viele sind sich in Bildungsstand, Kultur, Denkweise und politischen Interessen sehr ähnlich. Wer allzu stark aus der Rolle fällt, gilt eher als Exot*in, bekommt eine Sonderrolle oder fault aus der Gruppe heraus. Darum ist es wohl ein Wunder, dass ich immer noch in der EMK bin – oder sie mich noch dabeihaben wollen (lacht).

Bleiben wir noch bei Freikirchen. Kürzlich hat SRF DOK eine sehr erschütternde Doku über eine freikirchlich geprägte Privatschule im Kanton St. Gallen gezeigt, wo Missbrauch und Züchtigung an der Tagesordnung waren. Selbstverständlich darf man hier nicht verallgemeinern, aber denkst du, dass Freikirchen generell selbstkritischer werden müssen, wenn es um ihre Organisationsstruktur sowie theologischen Grundsätze geht? Oder anders gefragt: Sind Freikirchen womöglich anfälliger für Machtmissbrauch? 

Es ist einfach nur furchtbar und mein Mitgefühl gilt allen Betroffenen. Ich glaube den Aussagen der Opfer und ich spreche ihnen meine volle Solidarität aus. Hier darf auch kein «ja aber…» kommen. Ich habe in meinem Podcast «Der Zweifelclub» mit meinem Kollegen Dani ausführlicher darüber gesprochen.   

Ich würde deine Frage so beantworten: Wir Menschen sind anfällig für Machtmissbrauch. Schauen wir in die Politik mit all der Lobbyarbeit, dann ist das deutlich zu sehen. Aber natürlich sind Glaubenssysteme, wo es um Wahrheitsansprüche, um Richtig und Falsch geht, besonders anfällig. Die Relinfo und andere Sondergruppenberatungsstellen definieren klare Kriterien, wo Religion und Glaube missbräuchlich werden können. Machtmissbrauch geht oft von einer oder mehreren Personen an der Spitze aus, was aber z. B. in meiner ehemaligen Gemeinde nicht der Fall war. Missbrauch ist nicht immer sofort zu erkennen und braucht unfassbar viel Reflexionsvermögen und Adaptionskraft der (erwachsenen) Beteiligten sowie Unterstützung für die Kinder, um alles richtig einordnen zu können. Bei mir war’s perfide, denn ich habe durchaus geistigen Missbrauch erlebt, der aber eben nicht nur von Erwachsenen kam. Es wurde in meiner ehemaligen Gemeinde z. B. selten krass über Sünde und Hölle gepredigt, wie es in der SRF Dok gezeigt wurde, doch wir Kinder und spätere Teenager haben uns selbst aus verschiedensten Quellen ein eigenes Angstbild zusammengebaut und uns darin hineingesteigert. Manchmal waren es auch einzelne Erwachsene, die uns verängstigt haben. Oftmals taten sie das im besten Wissen und Gewissen und nicht, um uns zu schaden. Sie glaubten, dass ihre Lehre wahr wäre und sie uns retten müssten. Bei spirituellem oder emotionalem Missbrauch ist es, im Gegenteil zu sexuellem, materiellem und körperlichem Missbrauch, viel schwieriger, eine schuldige Person auszumachen.

Du setzt dich ja sehr kritisch mit theologischen Fragen einerseits, aber auch kirchlichen Strukturen andererseits auseinander. So bist du beispielsweise Mitbegründerin und Betreiberin des Insta-Kanals «freikirchen.ausstieg». Was ist die Idee hinter diesem Kanal? 

Ich war Gründungsmitglied und im Vorstand, heute jedoch nicht mehr dabei. Die Idee war, die im Zuge der Pandemie aufgekommene Welle von Dekonstruierenden zu vernetzen und eine Art «Hilfe zur Selbsthilfe» ins Leben zu rufen. Bis heute ist es so, dass es für Zweifelnde und Hinterfragende kaum Gelegenheit gibt, sich einfach auszutauschen, ohne gleich wieder eine «Lösung» und eindeutige Antworten präsentiert zu bekommen. Kritik auszuhalten, fällt uns Menschen wohl generell schwer und meiner Erfahrung gemäß noch schwerer in christlichen Gemeinschaften. Der Glaube ist beinahe untrennbar mit unserer Identität verknüpft, Kritik an Gott und am Glauben impliziert irgendwie auch eine Kritik an unsere Identität. Dekonstruierende rütteln an den Glaubensfesten der Gläubigen, an ihrer Identität. Der Verein versucht diese Kritik aufzufangen, auszuhalten und Aufmerksamkeit sowie Aufklärung zu bieten. Ich weise gerne auch nochmal auf mein Projekt «Der Zweifelclub» hin – ein kritischer, biographisch geprägter Podcast über Dekonstruktion, Zweifel und Glaube, unterstützt von der EMK.

SRF-Beitrag mit Sarah Staub-Strehler

Du hast den Begriff schon mehrfach erwähnt: Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Begriff «Dekonstruktion»? 

Dekonstruktion ist wie ein Umzug, sagt Martin Benz, der Gründer vom Movecast. Ich kann dem viel abgewinnen. Ich ziehe um in eine neue Wohnung und entscheide, was ich mitnehme, was ich entsorgen oder ergänzen, flicken oder neu kaufen muss. Ich bezeichne mich heute immer noch als Christin, weil ich viele meiner christlichen Traditionen mit-umgezogen habe. Einige Dinge meines alten Glaubens habe ich jedoch gerne hinter mir gelassen und einiges ist neu dazugekommen.

Dazu passend dein eigener Insta-Kanal, der den Namen «die.fromme.haeretikerin» trägt. Welcher Gedanke steckt hinter diesem paradox anmutenden Namen? 

Ich bin irgendwie eben doch ein frommer Mensch, ich habe eine Sehnsucht nach spiritueller Authentizität und Gotteserfahrung. Gleichzeitig bin ich vielen ein Dorn im Auge, ein Stachel im Fleisch – eine Häretikerin. Der deutsche Theologe Adolf Köberle hat mal geschrieben: «Wer keine Häresien wagt, wird die Wahrheit nicht finden» und unser Kirchengründer John Wesley sagte «Zweifeln ist nicht ein Zeichen von Unglauben, sondern eine mögliche Phase im Prozess des Heilwerdens». Der Name ist also Programm.

Nun zu einer sehr persönlichen Frage: Seit ungefähr einem Jahr weißt du, dass du die Diagnose Ehler-Danlos-Syndrom (EDS) hast. Was ist dies für ein Syndrom und wie manifestiert es sich in deinem Leben?

Die Ehlers-Danlos Syndrome sind eine genetisch bedingte Bindegewebestörung, die sich im ganzen Körper als Multisystemerkrankung manifestieren. Das Bindegewebe durchdringt den ganzen Körper, vom Hirn bis zu den kleinen Zehen. Dadurch verliert der ganze Körper Stabilität und steht in der Gefahr von Rupturen oder Blutungen. Ich habe dutzende Begleiterkrankungen und starke chronische Schmerzen – viele davon begleiten mich, damals noch unerkannt und unbenannt, schon mein ganzes Leben lang.

Dein Leidensweg bis zur jetzigen Diagnose glich einer Odyssee. Was war das Schwierigste dabei: Nicht zu wissen, was die Ursache der Schmerzen ist oder gewisse Reaktionen deiner Mitmenschen, welche deine Symptome nicht ernst nahmen? 

Ersteres war für mich schwieriger, denn in Frage gestellt werde ich sowieso oft, das ist quasi eine Begleiterscheinung meines Charakters (lacht). Aber als ich wusste, dass ich nicht spinne, dass es eben nicht normal ist, nie ohne Schmerzen zu schreiben oder so schnell müde zu werden, kam es einer Erlösung gleich. Unerklärliche Symptome zu haben, ist sehr unheimlich und traumatisierend. Das Unverständnis der Leute ist in erster Linie nur der Unkenntnis geschuldet und durch Nicht-Betroffenheit ausgelöst; es ist nicht böse gemeint. Das kann man ändern.

Jetzt, wo du endlich die Diagnose kennst, wie hat sich dein Leben seither verändert? Inwiefern ist dir dein Glaube eine Stütze dabei?  

Ich befinde mich immer noch in einer Trauerphase, die sehr zäh und anhaltend ist. Der Glaube ist mir keine Stütze, so ehrlich muss ich sein, denn viele, scheinbar einfache christliche Antworten lösen in meinem Falle nur ein müdes Lächeln oder auch Wut aus. Sie sind für mich sehr unbefriedigend.

Aber ich lerne viel mehr über mich, mein Gottesbild und die Art, wie Gott sich das alles gedacht haben könnte. Gott und ich sind also quasi gemeinsam in diesem Trauerprozess unterwegs – wobei ich meistens das Gefühl habe, dass ich Gott mitschleppe, nicht umgekehrt.

Ein sehr großes Thema auf deinem Insta-Kanal ist die Sichtbarkeit von Behinderung im christlichen Glauben. Was ist diesbezüglich deine Vision?  

Dass sich diese Welt und auch die Christenheit mit ihrer eigenen Behinderten- und Krankenfeindlichkeit, oder wie ich gerne sage «-negativität» auseinandersetzt. 80% aller Menschen erleben früher oder später die Grenzen ihres eigenen Lebens in Form von Krankheit und Behinderung – aber noch immer gilt es, «höher», «besser», «stärker» oder «schöner» zu sein. Sich dieser Lebensrealität zu stellen, fällt vielen schwer – doch wäre es nötig, denn Behinderung und Krankheit betrifft uns alle. Kirchen werben mit Inklusion, dabei sind weder Ausbildungen noch Gottesdienste wirklich inklusiv, vom Gottesbild des «starken, allmächtigen Gottes» wollen wir gar nicht reden. Wie kann ich mich mit Gott identifizieren, wenn Gott nicht wie ich ist, nämlich schmerzend und vom Leben überfordert? Wenn ich ebenbildlich geschaffen wurde, dann hat auch Gott ein Ehlers-Danlos-Syndrom. Nur so kann ich mich Gott zugehörig fühlen, nur so kann ich mich willkommen fühlen.

Hier bist du unter anderem von der Monographie «Der behinderte Gott» von Nancy L. Eiesland beeinflusst. Was sind die Kernaussagen des Buches? 

Dass Gott selbst verkörpert ist, wie wir verkörpert sind: Jesus zeigte seinen Jünger*innen seine Wundmale (Lk 24,36-39) und offenbart damit seinen gebrochenen Körper als Sakrament und Ausgangspunkt der Befreiungstheologie der Behinderung. Durch seinen versehrten Leib ermöglicht er einen beidseitigen Zugang von Menschen mit und ohne Behinderungen. Für Eiesland führt dieser geschenkte und gleichzeitig geheimnisvolle «Prozess des Einlebens in den Leib Christi» von allen Menschen zu einer nötigen Versöhnung und Umkehr und setzt den Schwerpunkt (von Christ*innen) auf soziale Inklusion und politisches Engagement.

Wie behindertenfreundlich oder –feindlich ist das Christentum? Wie wird Beeinträchtigung in der Bibel dargestellt?  

Auch wenn ich dabei den Finger in die Wunde lege: Nicht sehr behindertenfreundlich, doch wohl auch nicht per se -feindlich. Es gibt im Christentum, so schreibt es Eiesland, drei mögliche christliche Reaktionen auf behindertes Leben: Es gibt einerseits die, auch in der Gesellschaft vorherrschende Vorstellung, dass Behinderung die Lebensqualität und damit den Wert eines betroffenen Lebens reduziere. Dann existieren auch zwei christliche Grundmotive: Das «tugendhafte Leiden», jemand erträgt seine Krankheit, um Gottes Kraft zu bezeugen. Das andere ist die «ausgrenzende Wohltätigkeit», man sammelt z. B. für die «armen, blinden Kinder in Afrika». Alle drei Vorstellungen sind behindertennegativ und müssen meines Erachtens neu gedacht werden.

Die Bibel dagegen ist einfach ein Kind ihrer Zeit. Behinderung und Krankheit wird darin oft als Folge von Sünde dargestellt. Jesus dementiert das später in Joh 9,3. Die Bibel in diesem Thema als Maßstab zu nehmen ist Bible-Picking – zu Sklaverei haben wir heute ja auch ein komplett anderes Verständnis. Es geht also nur, wenn man die Bibel ihrer Entwicklungslinie getreu hin zur Befreiung aller als Orientierung nimmt.

Eine sehr hypothetische Frage: Das Paradies stellt man sich ja gerne als einen Ort vor, wo es kein Leiden, keine Krankheit, keine Gebrechen und keine Unzulänglichkeiten mehr gibt. Würde das aber nicht implizieren, dass alle Menschen mit Beeinträchtigung gar nicht mehr sich selber wären? Wäre solch ein Paradies nicht ein furchtbar öder Ort?  

Ich würde dann wohl lieber nicht dahin. Ich möchte auch im Paradies so sein, wie ich bin. Und ich bin nun mal Sarah mit dem Ehlers-Danlos Syndrom. Ich wurde damit erschaffen und dadurch bin ich zu einem anspruchsvollen Menschen geworden. Ich möchte das nicht missen. Nur die Schmerzen, die können hier im Diesseits bleiben.

Jetzt eine ganz schwierige Frage: Beim Thema Abtreibung ist es zweifellos ein Faktum, dass viele Säuglinge mit Beeinträchtigung (z. B. Trisomie 21) abgetrieben werden. Hier scheinen zwei wichtige Güter unversöhnlich gegenüberzustehen: Das Recht der Frau auf Selbstbestimmung, was m. E. nicht verhandelbar ist, sowie das Recht eines Fötus mit Beeinträchtigung auf Leben, was aufgrund eines systemischen Ableismus (Behindertenfeindlichkeit) eben öfters als bei Föten ohne Beeinträchtigung nicht gewährleistet wird. Kannst du dich da als Christin in diesem Dilemma irgendwie vernünftig positionieren?  

Ich halte mich an meine Kirche, die alle Seiten berücksichtigt. Einerseits ist das Leben eines Kindes schützenswert und wertvoll. Andererseits ist auch das Leben der gebärenden Person und das Umfeld zu berücksichtigen. Ich stelle eine Frage zurück: Mit meinem instabilen Körper ist eine Schwangerschaft ein ernstzunehmendes Risiko und auch eine Geburt und die Erziehung eines Kindes ein kaum vorstellbarer Kraftakt für mich. Es würde mich an meine körperlichen und mentalen Grenzen bringen. Mein Kind hätte zusätzlich wohl dasselbe Gebrechen wie ich. Lebenswert, aber einschränkend. Ich habe keine finanzielle Unterstützung vom Staat und wäre von einer Schwangerschaft, Stand heute, sehr überfordert. Ob ich die Erziehung eines Kindes schaffen könnte und wenn ja, zu welchem Preis, kann ich nicht beantworten. Wie würdest du entscheiden, könntest du mir diese Frage abnehmen? Es gibt keine klare Antwort darauf, auch wenn ich es mir sehnlichst wünschen würde. Meine eigene Situation hat mir das noch einmal neu vor Augen geführt.

Was müssten wir als Gesellschaft tun, um Behindertenfeindlichkeit besser zu erkennen und schließlich überwinden zu können?  

Es fängt bei jedem Menschen selbst an, auch bei Menschen mit Behinderungen. Niemand ist gefeit davor, nicht behindertennegativ zu sein (behindertenfeindlich empfinde ich oft als ein zu starkes Wort). Ich ertappe mich selbst oft mit internalisierter Negativität gegenüber mir selbst oder anderen Betroffenen. Ich nerve mich über Langsamkeit, meinem Unvermögen, Zeitverzögerung, wenn jemand mit einem Rollstuhl in den Zug will. Es ist wie mit Rassismus: Auch wenn ich es nicht möchte, ich ertappe mich dennoch immer wieder in stereotypen Denkmustern. Demut und Einfühlungsvermögen helfen mir. Nachfragen, durchatmen, Lösungen finden. Meiner Meinung nach ist unsere größte menschliche Stärke die Adaptionskraft. Wir können Lösungen finden. Das können wir auch bezüglich Krankheit und Behinderung, denn diese werden in Zukunft zunehmen – Überalterung, Klimaveränderung, Krisen und Kriege sind die Hauptgründe für chronische Krankheiten und Behinderungen.

Wäre es vielleicht auch wichtig, das Wort «Behinderung» neu zu formulieren? Sind wir alle Menschen letztlich nicht sehr verletzliche, bedürftige und auf Hilfe angewiesene Lebewesen. Je nach Kontext ist doch jeder von uns irgendwie beeinträchtigt.  

Das höre ich oft und es stimmt, dass wir alle Unzulänglichkeiten haben. Trotzdem ist diese Aussage behindertennegativ zu werten, denn sie schwächt die Lebensrealitäten von behinderten Menschen. Sich ab und zu verletzlich, bedürftig oder auf Hilfe angewiesen zu fühlen ist nicht das gleiche, wie sich täglich mit sozialen, gesellschaftlichen, politischen und körperlichen Grenzen auseinanderzusetzen und für mehr Sichtbarkeit und Teilhabe zu kämpfen. Letztlich sind solche Aussagen oftmals ein, wahrscheinlich nicht böse gemeinter Versuch, sich selbst nicht mit der Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen auseinanderzusetzen. Es erinnert an Whataboutism und unterspült die dringenden Anliegen der Behindertencommunity. Als Beispiel: In der Schweiz sind ca. 1,7 Mio. Menschen von einer Behinderung betroffen. Das sind 20 Prozent der Bevölkerung. Diese 20 Prozent sind im Parlament gerade mal mit drei Nationalratsmitgliedern, nämlich den beiden Mitte-Nationalräten Christan Lohr und Philipp Kutter sowie neu Islam Alijaj (SP), vertreten – eigentlich müssten es aber 44 sein. Als Vergleich dazu sind ca. 150‘000 Personen in der schweizerischen Landwirtschaft tätig. Das sind 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Diese 2,5 Prozent stellen derzeit über 30 Vertretende im Parlament. Solange wir diese Ungerechtigkeiten und viele andere nicht überwunden haben, ist es notwendig und dringend, Dinge klar zu benennen und nicht zu vermischen. Und darum abschließend nochmals: Nein, wir sind nicht alle «ein bisschen behindert» und es ist wichtig, dies auch so zu formulieren.

Zur Person

Sarah Staub-Strehler (1988) ist in der Innerschweiz in einer Freikirche aufgewachsen, welche sie mit 16 Jahren verließ. Mit 30 Jahren ist die gelernte Pädagogin und Theologin der Methodistischen Kirche beigetreten, wo sie als Pfarrerin und im Bereich Kommunikation / Gemeindeentwicklung arbeitet. Daneben arbeitet sie auch als Autorin, u. a. auf RefLab.ch und kuratiert diverse Inhalte z. B. auf ihrem Insta-Kanal «die.fromme.haeretikerin», auf Glaubensweite oder dem Podcast «Der Zweifelclub».

Titelbild: Foto Welti Zürich

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