Drei Young Critics-Rezensionen zum Sinfoniekonzert ‹Boléro› vom 24. Mai 2023. Von Iulia Malaspina, Anastasija Raspopova und Benaja Sigg
Zersplitterung
«Wie sehr sich unsere Kunst, unsere Ausdrucksweise und unser Denken seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr zersplittert hat.»
VON IULIA MALASPINA
Es wimmelte im Saal letzten Mittwoch, dem 24. Mai 2023. Der Frühling war endlich ausgebrochen, und vielleicht war auch die vorsommerliche Lust auf spanische Rhythmen für die Aufregung verantwortlich. Das Stadtcasino Basel war voll und das Publikum hat die Musiker*innen mit seinem tobenden Applaus überflutet. Doch eigentlich waren nicht die spanischen Rhythmen oder die Leidenschaft eines Landes, wo die Sonne brennt, das Umwerfende, sondern das 1. Konzert für Klavier und Orchester von Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Nicht nur aus dem Grund, dass es der Pianist Behzod Abduraimov geschafft hat, ein Werk, das alle in den Ohren haben, so zu spielen, als höre man es zum ersten Mal. Er spielte, als wechselten sich in ihm ein Teufel und ein Engel ab, mal wütete er mit seinen dennoch perfekt gespielten Noten auf dem Klavier, mal tätschelte er die Tasten, immer in inniger Spannung, mit eigenen, überraschenden Pausen, die dem berühmten Konzert eine persönliche, einzigartige Form verliehen. Sondern auch, weil die Musik an sich, vor allem die Grösse der Emotionen und Gefühle, die Tschaikowski zum Ausdruck bringt, einen direkt vom Hocker haut. Wenn man Tschaikowski nach der Suite Nr. 2 aus Der Dreispitz von Mauel de Falla, die das Konzert eröffnete, und vor den zwei Images pour orchestre von Claude Debussy, die nach der Pause folgten, hört, fällt sofort auf, wie sehr sich unsere Kunst, unsere Ausdrucksweise und unser Denken seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr zersplittert hat. Bei Tschaikowski haben wir noch eine Grossartigkeit des Fühlens, die von einer umwälzenden Verzweiflung über einem leichten Humor bis zur sanftesten Zartheit übergeht, in einem dreiteiligen Meisterstück, das jedoch eigentlich einen einzigen, zusammenhängenden Satz darstellt. Davor, mit de Falla, und vor allem danach, mit Debussy, kommen hingegen Impressionen, flüchtige, vielleicht auch ein stückweit intensive, aber zersplitterte Bilder, Assoziationen, die nur zusammenkommen, um sich danach wieder zu trennen. Man hört nichts von einem existentiellen, persönlichen, grandiosen Drama, sondern eher eine Kunstausübung, die das auffängt, was sie mal hier, mal dort empfindet. Die Lust für das grandiose Allumfassende ist nicht mehr vorhanden. An seine Stelle tritt das ein, was Ravels verführerischer Boléro vielleicht mitteilen wollte: unsere kleinliche, individualisierte Stumpfheit, in der wir die sich immer wieder identisch wiederholende Alltäglichkeit durchstreifen. Was kommt im Boléro vor? Ein mitreissender Rhythmus, der uns wie der Alltag das Gefühl gibt, dass wir willentlich fortschreiten und nicht nur, weil uns jemand anders den Takt angibt, und eine bezaubernde Melodie, die uns vorsingt, dass alles gut geht, dass wir in die richtige Richtung marschieren, dass wir alle die gleiche Meinung haben, genauso wie die Instrumente, die alle dieselben Noten spielen – bis dann plötzlich etwas schief geht – das Verrutschen nach einer neuen Tonart – und uns enthüllt, dass es eigentlich alles nicht stimmte, aber bis wir das gemerkt haben, ist es zu spät, der Boléro ist zu Ende, wir sind tot.
Hochgefühle und endlose Gänsehaut
«Und der Gedanke geht mir nicht mehr aus dem Kopf: Techno!»
VON ANASTASIJA RASPOPOVA
Es schien, als würde der Dirigent Pierre Bleuse mit einem Pinsel die malerischen Klänge und Farben malen, und das Orchester übersetzte sie wunderbar in Klänge und Wellen der Musik. Man konnte spüren, wie energisch und feurig der spanische Komponist Manuel de Falla mit seiner Suite Nr. 2 aus Der Dreispitz ist. Die Interpretation war in guten Händen, jeder plötzliche Akzent und jedes Temperament wurden abgebildet.
Leider vermisste ich ebendies bei Tschaikowski. Der Pianist Behzod Abduraimov spielte zweifellos sauber und klar, aber es fehlten die Farben, die epische und poetische Botschaft und die Seele von Pjotr. Ein besonderes Bravo geht an die Bläser*innen im 2. Satz, es war einfach eine unglaubliche Farbe, die sie produzierten! Nach der Aufführung spielte der Pianist – wie es fast schon üblich ist – eine Zugabe, den Neapolitanischen Tanz aus dem Schwanensee von P. I. Tschaikowski.
Nach der Pause waren es wieder nur der Dirigent und das Orchester. Pierre Bleuse hob seine Hände und es herrschte Stille… Stille…. Stille…. Immer noch Stille… SILENCE…. Und die Musik begann… Die Explosion der Stille war eine so auffällige Technik, dass die Musik eher zur Entspannung als zur Beruhigung beitrug. Debussy Images pour orchestre. Auch hier, wie in de Fallas Suite, zeichnete, gestikulierte und färbte der Dirigent, um eine Schicht, eine andere, und schliesslich eine dritte aufzubauen. Wir spürten die Farben, die das Orchester perfekt zu Gehör brachte.
M. Ravels Boléro liess niemanden gleichgültig. Einfach ausgezeichnet. Der Dirigent Pierre Bleuse machte zunächst keine aufdringlichen Gesten, und seine Hände sprachen fast gar nicht. Die Musik klang, als käme sie aus dem Inneren, wie aus den Tiefen des Körpers. Dort war sie schon immer und ist nur ‘erschienen’. Nach und nach, wie wir bereits wissen, wächst die Struktur, verschiedene Instrumente kommen hinzu, und der Gedanke geht mir nicht mehr aus dem Kopf: Techno!
Wir spüren den Rhythmus, wir spüren die Schwingung, wir lassen den Körper entspannen und geben uns der Welle hin, innerlich, wie in der Meditation. Der Dirigent bewegte und wandte die Melodie durch die Orchestermitglieder, als würde er Rauch bewegen. Bald stellt sich ein Effekt wie bei Technomusik ein – wir sind drin, wir sind an den Rhythmus, die Melodie, die Klänge gewöhnt, wir mögen es, und wir sind schon so lange dabei, dass uns die plötzliche Modulation aufregt. Fantastische Interpretation der Struktur. Und dann spielt das ganze Orchester, und zwar lauter und bravouröser, und das Schlagzeug kommt dazu, und das Stück und das Konzert enden mit einem Hurra. Hochgefühle und endlose Gänsehaut!
Nimmer stille Füsse
«Das Orchester begeisterte an diesem Abend mit Klang und Leidenschaft, spielte Zuschauende an die Wand.»
VON BENAJA SIGG
Für das zweitletzte Sinfoniekonzert der Saison holte sich das Sinfonieorchester Basel gleich nochmals zwei Publikumsgaranten ins Programm. Tschaikowskis 1. Klavierkonzert in b-Moll und Ravels Boléro sind die klingenden Namen, die schon weit im Voraus für einen ausverkauften Musiksaal im Stadtcasino Basel sorgten. Neben diesen Giganten gingen die anderen Programmpunkte fast etwas unter.
An die Interpretation dieses Programms wagte sich der französische Dirigent Pierre Bleuse, der als aktueller Chefdirigent des dänischen Odense Symphony Orchestra, Co- Leiter des Genfer Lemanic Modern Ensemble und zukünftiger Leiter des Ensemble Intercontemporain Paris heuer mit dem Sinfonieorchester Basel seine persönliche Premiere feiern durfte. Und er legte gehörig los. Mit der 2. Suite aus Manuel de Fallas Der Dreispitz – eben eines dieser Stücke, die beim Durchschnittspublikum wohl weniger «Ah!» und «Oh!» hervorrufen als Tschaikowskis Hornintro oder Ravels Trommelrhythmus. Doch wer mit ebendiesen Gedanken das Stadtcasino Basel betrat, wurde überrollt: Pierre Bleuse und das Sinfonieorchester Basel zelebrierten dieses Stück mit hervorragender Intensität.
Ein besonderer Genuss was das Beobachten des Dirigenten. Bleuse sprühte regelrecht vor Freude an der Musik und seine Beziehung zum Orchester war faszinierend. Er trat mit den Registern in derart engen Kontakt, dass es sich schon als innig beschreiben lässt und man mit dem Gefühl zurückblieb, dass Bleuse zu jedem Mitglied eine enge, mehrjährige Freundschaft pflegte. Und fehlte an diesem Konzertabend doch der Tanz zu der Suite aus einem Ballett, nahm Bleuse die Tänzerrolle teilweise gleich selbst auf sich, tänzelte mit nimmer stillen Füssen über das Pult und brachte die Musik mit seinem Körper zum Ausdruck. So hätte vermutlich, auch ohne Klang, ein Blick auf den Dirigenten gereicht, um sich ausgiebig vorstellen zu können, was die Musik gerade macht. Glich er in seinen Schlagbewegungen bei weichen, flüssigen Legatostellen einer sanften Welle, legte er bei hartem und rhythmischem Fortissimo strikte, ruckartige Bewegungen an den Tag, wie von Zahnrädern gesteuert, doch allzeit besonnen wirkend. Und in ebendieser Grazie entlockte er dem Orchester ungeahnte Dynamiken, vierfaches Forte, und Pianissimostellen – mit beliebig viel eingefügten «issi» – mit schier unerträglicher Spannung.
Nach drei Stücken und etwa 12 Minuten Mundoffenstehen galt es durchzuatmen. Das grosse Antizipieren des Klavierkonzerts wich der Begeisterung für die vorigen Stücke, die mit kräftigem Applaus und schon ersten Pfiffen und Rufen gewürdigt wurden. Erholen war angesagt, als die Hälfte des Orchesters die Bühne verliess, um einem Umbau Platz zu machen. Nun also Klavierkonzert. Für dieses gesellte sich der usbekische Pianist Behzod Abduraimov als Interpret zu Pierre Bleuse vor das Dirigierpult. Mit Hingabe wurde das Konzert begonnen und mit zierlich verliebter Spielweise durchgeführt. Abduraimov schien in bedächtiger Art in den Takten zu versinken, gestaltete die Musik dennoch ansprechend frei und ohne unnötiges Pathos. Eine Freude zum Zuschauen. Mit dem Orchester bezauberte er mithilfe der Musik. Dass er sich an einigen Stellen mit Pierre Bleuse nicht ganz einig gewesen zu sein schien, was die Tempi betraf, leider besonders beim Intro, darüber ist bei diesem bezaubernden Klangbild schnell hinweggesehen. Diese Interpretation verdiente kräftigen Applaus, durch welchen sich Abduraimov auch zu einem kurzen, Polka-artigen Encore hinreissen liess.
Auf die Epik folgte die Pause; durchatmen und nachklingen lassen. Und vorbereiten für weitere Monumentalitäten. Es wurde weitergefahren mit den Sätzen eins und drei aus Debussys Images pour orchestre. Es darf gesagt werden, dass dies ein stellenweise sehr herausfordernder Programmpunkt war. Ganz dem Impressionismus verschrieben, waren die Töne frei und eigene Erwartungen daran, wie sich die Harmonie entwickeln könnte, wurden häufig übertölpelt. Es gilt aber festzuhalten, dass es dem Orchester auch hier gelang, die Musik absolut resolut erklingen zu lassen. Doch so kurz der Kommentar zu Debussys Werken ausfällt, so schien es im Konzert auch wie ein kurzer Zusatzpunkt, bevor man sich dem für dieses Sinfoniekonzert titelgebenden Stück widmete: dem Boléro. Der Traum und doch Schrecken eines jeden Trommlers, eine einzige Verblüffung, euphorische Ekstase – keine Musik. Zumindest nach Ravel. Die Aussage Ravels gegenüber seinem damaligen Kollegen Honegger, dass sein einziger Erfolg gar keine Musik sei, findet sich wohl in vielen Köpfen vor, wenn der Boléro erwähnt wird. Ein wuchtiger Name, mit einer absurden Einfachheit, die mitreisst wie kein zweites Stück. Um hier einen persönlichen Kommentar fallen zu lassen: Ich finde es ja immer ein besonders geeignetes Stück, um Dirigent*innen zu vergleichen. Möchte ich eine Dirigenten*in kennenlernen, höre ich mir deren Boléro an. Ausprobieren empfohlen. Pierre Bleuse verrät in einem Gespräch im Programmheft, das es exakte Ausarbeitung braucht, um den Effekt von Befreiung zu erzeugen. Eine Aussage, die freudige Erwartung aufkommen lässt.
Um der Imposanz dieses Loops eines Rhythmus gerecht zu werden, wurde das Orchester stellenweise aufgerüstet, etwa von fünf auf sechs Bässe. Zwei Kleine Trommeln fanden sich, um die herausfordernd delikate Aufgabe der Perkussionisten zu unterstreichen, vorne in der Mitte des Orchesters wieder. Man wusste, was nun kommt. Totenstille legte sich über den Saal und Pierre Bleuse auf dem Dirigierpult machte keine Anstalten, sich mit dem Beginn des Stücks zu beeilen. Doch just bevor die Pause unerträglich wurde, schwang der Taktstock und der bekannte Rhythmus setzte, zunächst kaum hörbar, ein. Das Erklimmen des Klangrausches war eröffnet. Das stetige, langsame Crescendo wurde hervorragend ausgeführt und die Musik wuchs nach und nach zu ebendiesem ekstatischen Finale. Man spürte die angespannte Begeisterung nicht nur im Publikum, genauso war diese im Orchester wahrnehmbar. Die Solierenden vergnügten sich merklich an ihren Passagen und fügten sich zurück in den Gesamtklang ein, ein liebevolles Artikulieren von Ravels beinahe stumpfem Muster. Und dies alles unter der präzisen Leitung von Pierre Bleuse, der gerne auch mal in Achteln dirigierte, als etwa das Horn nicht ganz mit dem Trommelrhythmus mitmochte. Doch solche kleinen Makel sollen Makulatur sein. Denn das Orchester begeisterte an diesem Abend mit Klang und Leidenschaft, spielte Zuschauende an die Wand. Der von Bleuse gewünschte Befreiungseffekt kam gegen Ende mit jedem Takt näher, es wurde zunehmend voller, gigantischer und insgeheim wünschte man sich, selbst noch ein weiteres dick kursives «f» in die Noten des Dirigenten kritzeln zu können. Nach dieser geballten Ladung an Fulminanz durften sich Orchester und Leitung sich mit verdientem, tosendem Applaus danken lassen. Ein gelungenes Programm für ein gelungenes Konzert, gegen Ende einer gelungenen Saison.
Nun gilt es Vorfreude zu wahren, auf ein letztes Sinfoniekonzert und eine baldige Eröffnung der neuen Spielzeit.

Sinfonieorchester Basel
Du bist gefragt! Die Texte sind entstanden im Rahmen des Programms “Young Critics” des Sinfonieorchesters Basel. Vorgaben zur Textgattung gibt es keine, sogar Gedichte sind möglich. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und mit einem Betrag von 50 CHF vergütet. Bewerbungen an: l.vaterlaus@sinfonieorchesterbasel.ch. Übrigens: Für Studierende mit Studi-Abo kostet ein Konzertbesuch nur 10 CHF!
Bild: Sinfonieorchester Basel