Drei Young Critics-Rezensionen zum Sinfoniekonzert ‹Bruckner 9› vom 19./20. April 2023. Von Joëlle Salomé Götz, Carolina Mazacek und Ladina Tschurr
Wellenhafte Mikrotonalität
«Expressive Melodien, die plötzlich umschwenken und in wellenhafte Mikrotonalität abdriften.»
VON JOELLE SALOMÉ GÖTZ
Am Abend des 19. April 2023 eröffnet das Sinfonieorchester Basel das Konzert BRUCKNER 9 nicht mit Bruckners 9. Sinfonie, sondern mit einem hochmodernen Stück, uraufgeführt erst vor zwei Jahren: Die Schweizer Erstaufführung von Anders Hillborgs Konzert für Viola und Orchester – ein interessanter Auftakt, der mich mehr als positiv überraschte.
Der Bratschist Lawrence Power aus England leitet das Stück mit einem virtuosen Solo ein, das momenthaft unterstrichen wird, mit von Tremoli durchzogenen Texturen, gespielt vom Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Domingo Hindoyan.
Das Stück ist sehr atmosphärisch und der Solist spielt expressive Melodien, die plötzlich umschwenken und in wellenhafte Mikrotonalität abdriften, die ich als überaus ausdrucksstark empfinde, wahrend das Orchester häufig in echohaften Imitationen antwortet.
Das Sinfonieorchester Basel trifft den schwebenden Klang gut und ich werde in eine andere Welt entführt. Auch die vielen Glissandi, an die Shepard-Skala erinnernd, kreieren eine Endlosigkeit und im Zuge des letzten Glissandos setzen die Orchestermusiker*innen sogar ihre Stimmen ein, sodass das Stück mit einem lauten «Ha!» endet. Hilllborgs Konzert war für mich ein sehr spannendes Erlebnis. Mit einer kleinen Zugabe rundet Lawrence Power den ersten Teil des Konzerts ab.
Nach der Pause beginnt «die Unvollendete». Die «dem lieben Gott gewidmete» Sinfonie, die Bruckner vor seinem Tod nicht mehr fertigstellen konnte. In grosser, romantischer Besetzung geht es weiter. Der erste Satz beginnt mit einem riesigen Unisono, das uns auch später im Stück immer wieder erwartet. Bruckners Sinfonie ist emotionale Musik, die ausdrucksvoll angeleitet wird vom Dirigenten Domingo Hindoyan. Das Orchester spielt mit beeindruckender Schwere im Klang und die Extreme werden ausgekostet, vielleicht jedoch nicht genug, denn die Dynamik befindet sich doch eher im lauten Bereich.
Die vielen gigantische Höhepunkte lassen die Zuhörer*innen immer wieder den Schluss erwarten, bis der erste Satz dann wirklich sehr dramatisch endet. Ganz im Gegensatz zum dritten Satz, der mit sanften Streicherpizzicati abschliesst, die jedoch im präsenten Klang der Hörner etwas untergehen.
Die vielen chromatischen Stellen – beinahe Glissandi – haben mich im Laufe des Abends sehr an die Glissandi in Hillborgs Konzert erinnert. Aus diesem Grund kann ich sagen, dass ich die Zusammenstellung der beiden Stücke im Konzert als äusserst gelungen empfand.
Musik in die Ohren
«Hillborg hat alle Verzierungen, die ich auf der Viola kenne, in die Stücke eingebaut.»
VON CAROLINA MAZACEK
Die Nacht ist schon angebrochen. Basel wird durch seine Lichter erleuchtet. Die letzten Abendveranstaltungen sind zu Ende. Auch aus dem Stadtcasino Basel strömen Menschen ins Freie raus, mit ihren dicken Manteln, denn es ist immer noch zu kalt für eine Frühlingsjacke.
Manche rennen auf das Tram, damit sie den Zug am Bahnhof rechtzeitig erwischen. Aber nicht alle haben so es eilig. Jemand bleibt noch im Foyer und tauscht sich mit einem anderen Besucher über das Konzert aus. Jemand anderes zündet sich eine Zigarette an und geniesst die kalte Abendluft. Wenn man die Menschenmenge anschaut, bemerkt man einen jungen Mann und eine alte Dame, die in ein Gespräch vertieft sind. Über was sprechen sie denn wohl?
«Es war wirklich ein schönes Konzert, finde Sie nicht?», sagt der junge Mann zur Dame. Die Dame schaut ihn an und sagt mit einem Lächeln: «Oh ja, es war wunderschön. Vom Sinfonieorchester Basel wird man nie enttäuscht. Ich war auch am Konzert, an dem das Orchester den Sound Atlasvon Anders Hillborg gespielt hat. Ich war so begeistert, dass ich entschieden habe, das Konzert für Viola und Orchester des gleichen Komponisten zu hören. Haben Sie schon ein Stück von Hillborg gehört?» «Nein, noch nie. Ich war überrascht von diesen Stücken, denn ich habe gedacht, dass Orchesterstücke total langweilig sind.» «Oh, das ist ein grosser und schwerer Irrtum, junger Mann. Die Komponisten spielen mit den Noten herum, sodass ein unvergessliches Stück entsteht. Und Hillborg hat alle Verzierungen, die ich auf der Viola kenne, in die Stücke eingebaut. Dadurch entsteht eine Spannung, die sich erst bei der letzten Note auflöst», unterbricht ihn die Dame, «weiter war der Solist Lawrence Power in seinem Element. Das habe ich gespürt.» «Da stimme ich Ihnen mit Freude zu», sagte er.
«Und die 9. Sinfonie von Bruckner, das war mächtig. Er hat auch fast zehn Jahre gebraucht, bis er sie fertig komponiert hat. Man ist in die Musik eingesunken und als es endete, fand man sich in der Realität schwer zurecht. Die Musiker*innen haben bombastisch gespielt und der Dirigent Domingo Hindoyan war bestens mit der Musik vertraut. Es war grossartig und …», sie hält inne, schaut auf den Mann und sagt erschrocken: «Oh, es tut mir leid, dass ich hier einen Monolog führe. Ich halte Sie nur auf!» «Nein, ich finde es interessant, was Sie erzählt haben. Ich habe wenig Ahnung von der Musik. Meine Freundin hatte die Idee, dieses Konzert zu besuchen. Aber es hat sich wirklich gelohnt und nächstes Mal komme ich wieder. Da kommt sie schon. Vielen Dank für das Gespräch!» Er geht auf eine Frau zu, die ein blaues Kleid trägt, und beide gehen gemeinsam hinaus. Die alte Dame bleibt noch ein bisschen im Stadtcasino, danach schlendert sie mit Musik in den Ohren nach Hause.
Energie auf Höchststand
«Ungewohnt, schräg, verrückt, und gleichzeitig äusserst spannend.»
VON LADINA TSCHURR
Anders Hillborgs Musik ist so zeitgenössisch, dass nicht einmal Wikipedia eine komplette Liste seiner Werke aufführt. Das Bratschenkonzert, das der Solist Lawrence Power spielt, ist keine zwei Jahre alt und wird in der Schweiz an diesem Abend zum ersten Mal aufgeführt. Und was für eine Premiere! Die Energie ist vom ersten Bogenstrich auf Höchststand, eine nicht-endende schnelle Abfolge von Arpeggios hallt minutenlang durch den Saal. Für klassisch trainierte Ohren klingt es ungewohnt, schräg, verrückt, und ist gleichzeitig äusserst spannend. Auf einmal verwandeln sich die Celli und Teile der Bratschen in ein vielstimmiges Perkussionsorgan. Die Vibrati der Solobratsche bewegen sich scheinbar über mehrere Töne hinweg. Jegliche Streichinstrumente jammern mit asynchronen bis synchronen Glissandi wie die Musik aus den spannendsten Horrorfilmmomenten. Vom Konzertflügel hinter dem Streichregister her erklingt immer wieder verheissungsvoll ein tiefer Ton im Fortissimo. Irgendwann wird die Bratsche unglaublich melodisch. Fast unbemerkt schleicht sich der Klang eines Sopransaxofons in die Bratschenmelodie und fügt sich dialogisch in sie ein. Das Stück ist zerrissen, irgendwie fetzenhaft zwischen unvorhersehbaren Rhythmen und Vierteltönen, zwischen Schmerzensschreien, Drama und Schönheit.
Dem gegenüber erscheint Bruckners 9. Sinfonie in der zweiten Konzerthälfte fast wohlgesittet. Seine Dramatik konstituiert sich vor allem in der klanglichen Intensität des vollbesetzten Orchesters. Mit sechzig Streichinstrumenten, davon acht Kontrabässen, ebenso vielen Hörnern und dreifachbesetzten Holzblasinstrumenten bildet es einen mächtigen Klangkörper. Das Meer der vielen Geigenbögen wogt synchron mit der Musik mit. Hunderte von Fingern bewegen sich gleichzeitig in einer hohen Geschwindigkeit über Saiten und Klappen, die Aufmerksamkeit jedes Orchestermitglieds auf den Dirigenten fokussiert. Die 9. Sinfonie ist wuchtig, laut und massiv.
Lediglich der mittlere Satz lädt mit seinem fetzigen Rhythmus zum Tanzen ein – ein älterer Herr in der Reihe vor mir kann sich kaum stillhalten -, eine Auflockerung im sonst derart intensiven Werk. In über einer Stunde Musik gibt es nur zwei kurze Pausen. Erschlagen und erfüllt spendet das Publikum schliesslich einen langen anhaltenden Applaus, der die Lautstärke des Konzerts noch zu übersteigen scheint.

Sinfonieorchester Basel
Du bist gefragt! Die Texte sind entstanden im Rahmen des Programms “Young Critics” des Sinfonieorchesters Basel. Vorgaben zur Textgattung gibt es keine, sogar Gedichte sind möglich. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und mit einem Betrag von 50 CHF vergütet. Bewerbungen an: l.vaterlaus@sinfonieorchesterbasel.ch. Übrigens: Für Studierende mit Studi-Abo kostet ein Konzertbesuch nur 10 CHF!
Bild: Sinfonieorchester Basel