Studienreise auf die kroatische Insel „Goli otok“

img 1 1

Eine Studienreise der Universität Basel nimmt uns mit zu den Überresten eines jugoslawischen Umerziehungslagers. Die Gruppe entdeckt nicht nur Zeugnisse der Angst und Qual aus den 50ern, sondern beschäftigt sich auch mit der Erinnerungskultur Kroatiens. Sie berichten von der Wichtigkeit der professionellen, geschichtswissenschaftlichen Arbeit, an einem Ort, wo deren Ausbleiben bereits mehr als sichtbar ist. Von Katarina Penčić

Als wir uns am 1. September auf den Nachtzug nach Zagreb begaben, hatten wir bereits eine mehr oder weniger konkrete Vorstellung von unserem Reiseziel. Denn während des Frühjahrssemesters 2021 haben wir uns im Vertiefungskurs «Kroatisch/Serbisch» literarisch, filmisch und historisch mit der Thematik auseinandergesetzt. Jeden Mittwochnachmittag verbrachten wir also gedanklich auf und mit der Insel. Doch was hat es mit der kroatischen Insel “Goli otok” auf sich und wieso sind wir so weit gereist um sie zu besuchen?

Teaser: Goli otok

“Goli otok” heisst übersetzt “nackte Insel”. Der Name kommt nicht von ungefähr, denn die kleine, unbewohnte Insel im adriatischen Meer zeichnet sich aus durch karge, steinige Landschaften, ein harsches Klima und das gänzliche Fehlen einer natürlichen Trinkwasserquelle.
“Goli otok” wurde im sozialistischen Jugoslawien ab 1949 als Umerziehungslager für politische Gefangene (und später als gewöhnliches Gefängnis) genutzt. Denn der Bruch des Tito-Regimes mit der Sowjetunion 1948 forderte eine rasche ideologische Umorientierung in Jugoslawien: Die Sowjetunion galt von einem Tag auf den anderen nicht mehr als grosses ideologisches Vorbild, sondern als militärisch überlegener Feind. Ebenso schnell verschwand das Bild Stalins aus dem öffentlichen sowie privaten Raum. Nach drei Jahren intensiver Stalinisierung konnten jedoch viele Personen die Tatsache nicht verstehen, dass Stalin und Tito nun nicht mehr Freunde waren. Die Jugoslaw*innen für welche dieser Wechsel überraschend kam und welche sich nicht klar von der Sowjetunion distanzierten, wurden von der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) als Bedrohung angesehen.

Für diese Personen schuf der Staat ein Gefängnis- und Lagersystem, in welchem das Umerziehungslager auf der Insel Goli otok das grösste und berüchtigtste war. Während der jugoslawisch-sowjetischen Auseinandersetzung, welche von 1949 bis 1956 dauerte, wurden ca. 16’000 Personen im jugoslawischen Gefängnis- und Lagersystem aufgrund ihrer politischen Anschauungen inhaftiert. Dies geschah meist ohne Gerichtsurteil. Doch unter den inhaftierten Personen waren keineswegs nur feurige Anhänger*innen Stalins: Viele Personen landeten im Umerziehungslager, weil sie von ihren Mitmenschen böswillig denunziert wurden. Einige der Insass*innen waren Kriegsgefangene, Faschisten oder Angehörige der Ustaša. Einige wurden wegen Bagatellen weggesperrt oder waren gänzlich unschuldig.

Im Umerziehungslager auf Goli otok herrschten sehr harsche Bedingungen, welche nicht zuletzt den natürlichen Gegebenheiten der Insel geschuldet waren: Durch die fehlende Vegetation konnten sich die Inhaftierten weder vor der glühenden Sonne noch vor kaltem Wind – welcher bis zu 150 km/h erreichen konnte – schützen. Die wenige Vegetation, welche heute beim Anlegehafen vorhanden ist, haben die Häftlinge selbst gepflanzt und mussten stundenlang in der Sonne stehen, um den Setzlingen Schatten zu spenden. Da es auf der Insel keine natürliche Trinkwasserquelle gibt, musste das Wasser mühsam auf die Insel transportiert werden. Trotzdem gab es nie genug davon. Der Zwangsaufenthalt war von ständigem Durst begleitet. Auf der steinigen Felslandschaft, welche von spitzen und scharfen Steinen übersät ist, arbeiteten die Menschen in Steinbrüchen, ohne passendes Schuhwerk, sodass sie sich zwangsläufig die Füsse zerschnitten. Doch nicht alle Arbeit war produktiv. Oft mussten die Häftlinge sinnlose Arbeiten erledigen – wie z.B. stundenlang einen schweren Stein vom Hügel herunter und wieder hoch schleppen. Die unzugänglichen und steilen Felsküsten verunmöglichten jegliche Flucht über das Meer.

Das Umerziehungslager auf Goli otok war auch in Bezug auf seine interne Organisation besonders grausam. Die Häftlinge wurden nicht direkt von der jugoslawischen Geheimpolizei (UDBA) überwacht, geschlagen und gefoltert, sondern von anderen Mithäftlingen. Die “Arbeiterselbstverwaltung”, welche als Credo des jugoslawischen Sozialismus galt, wurde erbarmungslos auch im Umerziehungslager angewandt: Diejenigen Häftlinge, welche ihre Ansichten revidiert hatten, bekamen Privilegien und mussten ihre Treue zum Tito-Regime beweisen, indem sie ihre Mithäftlinge demütigten und Menschen ausserhalb des Lagers denunzierten. Nur auf diese Weise konnten sie auf freien Fuss kommen. Dies ist einer der Gründe, weshalb viele ehemalige Häftlinge sogar mit engsten Vertrauten nie über Zeit im Lager sprachen: Sie waren auf der Insel nicht nur Opfer, sondern auch Täter*innen. Zudem war es ihnen offiziell verboten, nach der Haft vom Lager zu sprechen. Dennoch wussten viele Jugoslaw*innen von der Existenz der Anstalt, was das Lager zu einem offenen Geheimnis machte.

Blick auf das ehemalige Lager “Velika Žica” – viele Gebäude des Lagers sind zerstört. Die meisten Gebäude stammen aus der Zeit, als die Insel als Gefängnis genutzt wurde.

Das Umerziehungslager war bis 1956 in Betrieb. Danach wurden die Gebäude als Haftanstalt für straffällige Personen bis 1988 genutzt, wobei in das Gefängnis auch einzelne Personen aus dem ehemaligen Lager überführt wurden.

Nach dem Tod Titos 1980 entstanden erste filmische und literarische Auseinandersetzungen mit dem Umerziehungslager. Während des Zerfalls Jugoslawiens in den 1990er Jahren überschatteten die Jugoslawienkriege die Schrecken des Lagers, welches in der Folge in Vergessenheit geriet. Obwohl heute die meisten (auch jüngeren) Bewohner*innen der ex-jugoslawischen Staaten um die Existenz der Insel Goli otok wissen, können sie nicht viel dazu sagen.

In der aktuellen kroatischen Erinnerungspolitik spielt die Insel trotz ihres historisch bedeutenden Erbes eine sehr marginale Rolle. Die Gründe dafür sind vielfältig: Nach dem Zerfall Jugoslawiens rückte in den post-sozialistischen Staaten eine ethnozentrische Geschichtspolitik in den Vordergrund. Da relativ wenige Kroat*innen im Umerziehungslager inhaftiert wurden, eignet sich die Insel nicht als Ort des kollektiven (kroatischen) Leidens. Weiter passt die Tatsache, dass viele Inhaftierten treue Komunist*innen, Jugoslaw*innen sowie ehemalige Angehörige der Volksbefreiungsarmee im Zweiten Weltkrieg waren, nicht in das aktuelle kroatische Geschichtsnarrativ, welches sich vom Kommunismus distanziert. Obwohl der Ort als Symbol der kommunistischen Repression gilt, ist Goli otok im kroatischen antikommunistischen Diskurs nicht ausschlaggebend. Dies verstärkt die “Unsichtbarkeit” der Insel. Zudem hat der Kroatienkrieg von 1991 bis 1995 einen zentralen Stellenwert in der Schaffung einer post-kommunistischen kroatischen Gesellschaft und spielt entsprechend eine wichtigere Rolle als das Umerziehungslager auf Goli otok.

Die Marginalität der Insel in der kroatischen Erinnerungspolitik sticht beim Besuch der Insel sofort ins Historiker*innen-Auge. Bereits bei der Ankunft am Anlegehafen erblickten wir ein fragliches Werbeplakat, welches in fehlerhaftem Englisch für eine geführte Tour durch das ehemalige Umerziehungslager warb. Sogleich sprach uns ein Reiseführer an, ob wir Interesse an einer Führung hätten. Wir lehnten dankend ab, nahmen aber den Flyer mit, welchen er uns in die Hand drückte. Es handelte sich um denselben Anbieter wie beim Werbeplakat. Der Flyer wirbt um die geführte Tour mit zweifelhaften Aufschriften wie “Experience the beauty and the terror” oder “Hear the stories that will guide you through history [sic] of the most notorious communist prisons in Europe after WW II”.

Flyer eines privaten Reiseleiters

Solche Werbemassnahmen werden dem Schrecken der inhaftierten Menschen und dem Leiden derer Familien (welche jahrelang nichts vom Verbleib ihrer Angehörigen wussten) in keiner Weise gerecht. Eine der Stationen der geführten Tour ist das Kino “Kuglana”, wo ein Dokumentarfilm die Entstehung und das Funktionieren des Lagers erklären soll. In diesem Gebäude sind Zeichnungen, Kleidung sowie zahlreiche andere Gegenstände ohne Berücksichtigung wissenschaftlichen Arbeitens oder belegbare Hintergrundinformationen ausgestellt. Gemäss Flyer sollen die ausgestellten Zeichnungen den Besucher*innen “a true insight to jail yearnings” bieten. Die Trivialisierung der Leiden der Inhaftierten wird beim Eingang zum Gebäude weiter auf die Spitze getrieben: Dort stehen nämlich zwei Fotowände mit Guckloch, wo Besucher*innen für 5 Kuna (umgerechnet ca. 0.70CHF) ein Foto schiessen können. Eine Fotowand zeigt einen Häftling in gestreifter Kleidung, welcher einen grossen Hammer in der Hand hält, während die andere Wand die Aufschrift “Goli otok” trägt, unter welcher ein Fenster mit Gitterstäben sowie eine Insassennummer angebracht ist.

Aufgrund der späteren Nutzung der Insel als Gefängnis, wurden viele Gebäude aus der Lagerzeit abgerissen oder zerstört. Die meisten heute sichtbaren Gebäude stammen aus der Zeit des Gefängnisses. Diese “Überlagerung” von Bauwerken aus unterschiedlichen historischen Kontexten macht es für die Besucher*innen schwierig zu wissen, vor welcher Art von Gebäude sie geradestehen. Die vorhandenen Infotafeln können eine erste Orientierungshilfe bieten. Dennoch soll erwähnt sein, dass die Infotafeln keineswegs das Ergebnis einer professionellen, geschichtswissenschaftlichen Arbeit sind, zumal sie historisch falsche Informationen und laienhafte Übersetzungen beinhalten.

Infotafel beim Besuchergebäude

Dass die Überreste des Umerziehungslagers und Gefängnisses dringend saniert werden müssten, um sie vor dem Zerfall zu retten, steht ausser Frage. Doch woher sollen die finanziellen Mittel kommen, wenn der kroatische Staat der historischen Bedeutung der Insel keine Beachtung schenkt? Folglich verwundert es nicht, dass nun einzelne Privatpersonen von den umliegenden Gebieten etwas aus der Insel machen. Sei es das Betreiben von Restaurants und Taxi-Booten oder das Anbieten von Touren: Das Geschäft scheint sich für die Anbieter*innen zu lohnen, was zeigt, dass das (internationale) Interesse für die Insel durchaus vorhanden ist. Ein weiterer Lichtblick ist das Engagement von einzelnen Geschichtswissenschaftler*innen, Kulturschaffenden und Forscher*innen welche sich zusammengeschlossen haben, mit dem Ziel, die Insel zu einem staatlich anerkannten Gedenkort zu machen, welcher mit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung seiner Komplexität gerecht wird.

Hinweis:

Exkursion vom 1.-4. September 2021 im Rahmen des Vertiefungskurses „Kroatisch/Serbisch“

Teilnehmerinnen: Tatjana Simenunović (Kurs- und Reiseleiterin), Sara Rašić, Amina Selman und Katarina Penčić

Alle Angaben beziehen sich auf folgendes Werk:

Previšić, Martin/ Stamenić, Boris/ Bralić, Vladi: Goli otok. A Short Guide trough the History of the Internment Camp on Goli otok, Documenta – Friedrich Ebert Foundation, Zagreb 2020. Online: https://documenta.hr/wp-content/uploads/2020/07/Goli-otok_ENGLESKI_web.pdf (Stand: 03.11.2021). 

Ein Kommentar

  1. absolut lesenswert ist „Was Nina wusste“ von David Grossmann; darin beschreibt er die Erfahrungen von Eva Panic-Nahir, die auf Goli Otok inhaftiert war. Das Buch ist 2020 in deutscher Übersetzung im Hanser Verlag erschienen.

Kommentar verfassen Antwort abbrechen

Die mobile Version verlassen
%%footer%%