Model United Nations – Von Interessen, Debatten und Kompromissen

Die internationale Politik und insbesondere die Vereinten Nationen haben bekanntlich den Ruf, eine komplexe Angelegenheit zu sein. Insbesondere in unserer schnelllebigen Welt kann man da schon einmal den Überblick verlieren. Der an die Uni Basel angegliederte Verein Model United Nations will sie für junge Menschen zugänglich machen und für jeden und jede verständlich vermitteln, was sich hinter dem Vorhang der Welt der Diplomatie verbirgt. Von Torben Rigert

Es sind Bilder, welche insbesondere die westliche Welt in den letzten Wochen bewegt, bestürzt, fassungslos und auch wütend gemacht haben. Kampfverbände der militant-islamistischen Taliban, welche Stadt um Stadt nahezu kampflos einnehmen. Eine afghanische Armee, welche trotz modernster Ausrüstung durch das US-Militär innerhalb kürzester Zeit kollabiert. Kreisende Helikopter über der US-Botschaft in Kabul. Botschaftspersonal, das hektisch ausgeflogen wird. Schliesslich Menschen, die sich um das Flughafengelände von Kabul drängen und verzweifelt versuchen, auf einen der wenigen Evakuierungsflüge der abziehenden NATO-Truppen zu gelangen. Am Ende neben Ausgeflogenen auch Tote und Verletzte durch einen Selbstmordanschlag des afghanischen IS-Ablegers, sowohl Soldatinnen und Soldaten als auch Zivilistinnen und Zivilisten. Und neben all dem die grosse Frage, wie es nach dem vollständigen Abzug der westlichen Truppen mit dem kriegsgebeutelten Land weitergehen soll.

Nun ist Afghanistan natürlich weder das einzige Krisengebiet auf dieser Erde, noch ist es der erste Militäreinsatz ausländischer Mächte in Afghanistan selbst, welcher einen Scherbenhaufen hinterlässt und in einem moralischen und politischen Fiasko für die Invasoren endet. Alleine ein Blick in die jüngere Vergangenheit seit dem Zweiten Weltkrieg beweist, dass dem definitiv nicht so ist. Der nach nahezu 20 Jahren endgültig gescheiterte Einsatz des Westens unterstreicht jedoch nicht nur erneut die Relevanz von Ereignissen in der internationalen Politik sowie deren Folgen für Staaten, Gesellschaften und schlussendlich jeden Einzelnen und jede Einzelne. Er ist auch ein weiteres Beispiel dafür, dass zur Lösung von Krisen globaler Tragweite ebenfalls starke internationale Organisationen vonnöten sind. Diese können zumindest die entsprechende Plattform für einen Austausch oder gar Kooperation zwischen Staaten bieten, welche nicht dieselben Interessen verfolgen oder dieselben Werte teilen und ohne diese Foren weniger Anlass dazu haben könnten, ihre Differenzen auf diplomatischem Weg auszutragen, geschweige denn sie zu lösen.

An dieser Stelle nehmen nun die Vereinten Nationen eine zentrale Rolle ein, da diese bis heute immer noch die einzige zwischenstaatliche Organisation sind, welche nahezu alle international anerkannten Staaten der Erde in sich zusammenfasst. Es liegt aus diesem Grund denn auch nahe, dass man sich mit dem Aufbau der UN auseinandersetzen sollte, wenn man verstehen will, warum und wie welche Staaten in welchen Bereichen auf globaler Ebene zusammenarbeiten oder dies eben nicht tun.

Hier kommt der Verein Model United Nations (MUN) ins Spiel, der auch an der Universität Basel angesiedelt ist. Es ist jener Ort, wo man Antworten auf so manche Frage erhält, die sich vermutlich jeder und jede bereits einmal zur Welt der Verhandlerinnen und Verhandler in den schicken Anzügen gestellt hat. Sinn und Zweck des weltweit aktiven Netzwerkes der Model United Nations-Vereine besteht in erster Linie darin, die Arbeit und die Funktionsweise der UN zu simulieren und diese insbesondere Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden auf eine verständliche Art zugänglich zu machen. Gleichzeitig sollen die Teilnehmenden aber auch mit den Schwächen des Systems konfrontiert und im besten Fall zu Überlegungen angeregt werden, wie man die UN besser machen und anders gestalten könnte. Es ist kein Geheimnis, dass die UN seit ihrer Gründung 1945 von manchen Stimmen als zahnloser Papiertiger bezeichnet wird. Sie verfüge über keine Entscheidungsgewalt und in ihrem Aufbau sei sie längst selbst zu einem Relikt einer untergegangenen Weltordnung verkommen, das nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten entspräche, so die Kritik.  

Nun ist jedoch die Frage durchaus berechtigt, warum man sich in solch einem Verein engagiert. Was mich betrifft, fiel die Entscheidung zum Beitritt vor ziemlich genau einem Jahr. Just zu dem Zeitpunkt, als ich auch mein Bachelorstudium an der Uni Basel aufnahm. Ich hatte mich damals für Politikwissenschaften sowie Osteuropäische Kulturen eingeschrieben und war auf der Suche nach einer sozialen Aktivität, welche es mir erlaubte, meinem Interesse für das politische Weltgeschehen zusammen mit Gleichgesinnten in einem geregelten und regelmässigen Rahmen nachzugehen. Zudem war ich damals noch neu in der Stadt, weswegen es mir wichtig war, möglichst schnell neue Bekanntschaften zu schliessen, um im neuen Studien- und Lebensumfeld Anschluss finden zu können. Nicht zuletzt gefiel mir aber auch die Möglichkeit, mein im Alltag und Studium erworbenes Wissen in einer praktischen Art und Weise zur Geltung bringen zu können. Ich hatte mir die Jahre zuvor durch den intensiven Konsum unterschiedlichster Medienerzeugnisse ein gutes Allgemeinwissen über gegenwärtige Entwicklungen in der internationalen Politik angeeignet und mich ebenfalls vermehrt mit Sprachen, der Geschichte und Kulturen insbesondere des postsowjetischen Raumes auseinandergesetzt, was sich durch Reisen nach Armenien, Moldawien und Russland noch einmal intensivierte.

Nachdem ich zunächst per E-Mail mit Viktor Gsteiger, dem Präsidenten von MUN Basel, Kontakt aufgenommen hatte, um mein Interesse an einem Beitritt zu bekunden, wurde ich wie andere Interessentinnen und Interessenten auch bereits zur ersten Sitzung eingeladen. Auf inhaltlicher Ebene gestaltete sich diese Zusammenkunft als vergleichsweise belanglos, um eine zwanglose Atmosphäre zu schaffen, welche das gegenseitige Kennenlernen erleichtern sollte. Dies geschah mittels kurzer Debatten in Zweiergruppen zu unterschiedlichsten Themen im sogenannten „Speed Dating-Verfahren“, wobei den Teilnehmenden entweder eine Pro- oder eine Kontrahaltung zugeteilt wurde. Die Themen der Debatten waren breit gestreut und reichten von spasseshalber gestellten Fragen wie jener nach der Existenzberechtigung der Pizza Hawaii bis hin zu Fragestellungen mit politischer Brisanz. „Sollten im Ausland lebende, jedoch in der Schweiz arbeitende Personen auch hier ihr Einkommen vollständig versteuern müssen?“ und „Welche Haltung vertrittst du in Bezug auf die Begrenzungsinitiative?“ sind nur 2 Beispiele der Palette an Fragen, die im Verlauf des Abends gestellt wurden. Im Anschluss an das offizielle Programm hatte man dann noch die Gelegenheit, miteinander ein wenig zu plaudern, ehe man sich danach auch wieder voneinander verabschiedete.

Bei der zweiten Sitzung ging es dann schon deutlich ernster zur Sache. Man wurde im Vorfeld gebeten, sich über das Thema „Überfischung der Weltmeere“ zu informieren und sich zu überlegen, wie die internationale Gemeinschaft darauf reagieren könnte. Ausserdem sollte man ein Land auswählen, dessen Standpunkt und Interessen man bei der Debatte in der Generalversammlung, eines der Hauptorgane der UN, vertreten sollte.

Für mich ist dies bisher gleichzeitig auch einer der spannendsten Aspekte des Vereinslebens gewesen, da es sich ein wenig wie schauspielern und pokern gleichzeitig anfühlt: Man schlüpft in eine fremde Rolle, muss eine andere Meinung glaubhaft vertreten, welche häufig nicht mit der eigenen übereinstimmt und muss andere so weit wie möglich vom eigenen Standpunkt überzeugen. Gleichzeitig muss man jedoch aufpassen, die anderen nicht zu vergraulen und letztendlich übergangen und isoliert zu werden. Es sei denn, man hat das Glück, einen Staat der „Grossen Fünf“ mit Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat, einem anderen UN-Hauptorgan, repräsentieren zu dürfen. Letztendlich muss man jedoch fast immer einen Kompromiss mit den restlichen Teilnehmenden aushandeln. Dies aber, ohne die eigenen nationalen Interessen und Prinzipien über Bord zu werfen. Besonders interessant wird es, wenn man die Interessen von Staaten vertritt, welche entweder keine „lupenreinen Demokratien“ oder gar autoritäre Regime sind und neben einer völlig unterschiedlichen Lesart der Geschehnisse in der globalen Politik auch eine deutlich andere Prioritätensetzung in ihrer aussenpolitischen Agenda haben.

Bei dieser umweltpolitischen Debatte in der zweiten Sitzung habe ich deshalb einen Staat vertreten, der bei uns im politischen Westen meistens dann ein Thema in den Nachrichten ist, wenn sein Geheimdienst wieder einmal jemanden vergiftet hat oder besonders viel Energie in die Einschüchterung, Verfolgung oder gar Ermordung oppositioneller Figuren steckt, oder wenn er, ehemals kommunistische Weltmacht, in Ländern interveniert, in denen man sich von den NATO-Mitgliedstaaten in die Enge getrieben fühlt: Russland, ein Land, dessen politische Elite eine deutlich andere Vorstellung von Menschen- und Bürgerrechten vertreten als jene, mit der ich sozialisiert wurde.

Am Beispiel, wie mit den Taliban umgegangen wird, sind die Unterschiede klar ersichtlich. Russland, aber auch China, haben in Afghanistan früh Kontakt mit Vertretern der Taliban aufgenommen und zugesichert, eine künftige Machtübernahme anzuerkennen, solange das eigene Botschaftspersonal unversehrt bleibt und die jeweiligen nationalen Sicherheitsinteressen nicht berührt werden. Der Westen war es, der trotz seiner militärischen Niederlage die Anerkennung der Taliban-Regierung an weitgehende Bedingungen knüpfte, so beispielsweise an die Geschlechtergleichheit. Diese unterschiedlichen Denk- und Verhaltensmuster nachzuvollziehen und in die eigene Weltsicht integrieren zu können, halte ich für das geistige Fundament der realen Diplomatie und als die Fähigkeit, die Model United Nations fördert, nebst einer Verbesserung der rhetorischen Fertigkeiten in Deutsch und Englisch sowie der Erlernung von Diplomatensprech.

Eine weitere Schwierigkeit ist der Umstand, dass man sich in der Politik, sei sie nun national oder international, immer wieder mit Sachverhalten auseinandersetzen muss, die einem selbst nicht allzu vertraut sind. Es ist auf jeden Fall von Vorteil, wenn man sowohl zumindest ein breit gefächertes Interesse für die internationale Politik mitbringt als auch über ein gewisses Spezialwissen verfügt, wenn man die regelmässig stattfindenden Debatten erfolgreich bestreiten will. In meinem Fall war das der postsowjetische Raum, vor allem in den Bereichen der Geo- und Sicherheitspolitik. Damit gelang es mir, diese erste formelle Debatte mit einem kleinen Achtungserfolg zu absolvieren.

In den Wochen und Monaten, die folgten, wechselten die Themen der Diskussionen beständig und der vermehrte Gebrauch der englischen Sprache verlieh den Debatten einen noch kosmopolitischeren Charakter. Die diplomatischen Rededuelle hatten sich mittlerweile jedoch aufgrund der rapide gestiegenen Infektionszahlen in den virtuellen Raum hineinverlagert. So gab es über Zoom manchmal intensivere und manchmal weniger heftige rhetorische Auseinandersetzungen zu klassischen Themen der Sicherheitspolitik wie dem wieder aufgeflammten Bergkarabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, wie dies auch im UN-Sicherheitsrat getan wird. Ein anderes Mal ging es sogar ausnahmsweise um politische Grossereignisse, welche mit Diplomatie im eigentlichen Sinn gar nicht so viel zu tun hatten wie der US-Präsidentschaftswahl im November 2020.

Die grosse inhaltliche Abwechslung, welche die Organisatorinnen und Organisatoren der Debatten in das übliche Programm hineinzubringen versuchten, konnte aber nicht verhindern, dass sich nach dem Jahreswechsel langsam eine gewisse Müdigkeit unter den Teilnehmenden breitmachte. Ich denke, dass dies im Rückblick betrachtet vor allem durch den anhaltenden Online-Unterricht und den erzwungenen Wegfall der Offline-Aktivitäten wie den spätabendlichen Treffen in der Bar ONO, dem gemeinsamen Vereinsessen am Ende des Herbst- und Frühjahrssemesters, den Gruppenausflügen und der Teilnahme an internationalen Konferenzen bedingt war. Die abfallende Motivationskurve bekam auch ich selbst zu spüren, als ich im Frühjahr zusammen mit einem anderen Vereinsmitglied eine Debatte zur Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf die wachsende globale Bedeutung Chinas vorbereitete. Diese musste dann aber mangels Anmeldungen zunächst verschoben werden, ehe diese beim zweiten Anlauf nur dank der ausgeprägten Teilnahmebereitschaft nahezu des gesamten Vereinsvorstands überhaupt stattfinden konnte. Ähnlich erging es später zwei anderen Vereinskolleginnen, die eine Debatte zum Militärputsch in Myanmar organisierten, welche aber aufgrund zu geringer Teilnahmebeabsichtigungen zunächst ebenfalls verschoben und später leider ganz abgesagt werden musste.

Rückblickend, nach diesen letzten zwei Semestern des Engagements, stellt sich für mich die Frage: Haben sich der Zeitaufwand und die Mitgliederbeiträge gelohnt? Mein Fazit dazu lautet ja, weil ich neben der Verbesserung meiner sprachlichen Ausdrucksweise vor allem einen guten Einblick in viele verschiedene politische Themen erhalten konnte, mit denen ich mich ansonsten aus dieser Perspektive wohl weniger auseinandergesetzt hätte. Nicht zuletzt konnte ich auf einer Online-Konferenz im letzten Jahr bereits eine erste Auszeichnung für das beste Positionspapier einheimsen, was mich darin bestätigt hat, im richtigen Verein zu sein und mein Engagement weiterzuführen.      

Die Corona-Massnahmen haben aber auch eindeutig gezeigt, wovon die intensive Beschäftigung mit einer jeder Sache lebt: vom Zwischenmenschlichen. Es sind nämlich wie bereits angedeutet nicht nur die Debatten, sondern vor allem auch die Begegnungen untereinander und überhaupt die Menschen mit ihren unterschiedlichen Herkünften, Lebensgeschichten und Interessen selbst, die den Unterschied machen. Und nur diese können mit ihrem Engagement letztendlich auch dazu beitragen, den Verein langfristig am Leben zu erhalten.

Mit dem wiederkehrenden Präsenzunterricht freue ich mich insbesondere auf wieder live stattfindende Debatten, Exkursionen zu Botschaften, internationalen Organisationen und Konferenzen, gemeinsame unterhaltsame Momente und auf den Neuzuwachs aus den unterschiedlichsten Fach- und Studienrichtungen, der einen Einblick hinter die diplomatischen Kulissen der Weltbühne erhalten möchte.

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Torben Rigert ist Mitglied im Verein Model United Nations (MUN). Der Verein veranstaltet Debatten zu unterschiedlichen Themen der internationalen Politik, organisiert Exkursionen zu Botschaften und internationalen Organisationen und hat sich zum Ziel gesetzt, jungen Menschen die Vereinten Nationen näherzubringen. Interessierte können sich bei president@munbasel.ch, via mun_basel auf Instagram oder über @munbasel auf Facebook melden.

Titelfoto von Mathias P.R. Reding von Pexels

MUN-Porträtbild von Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay

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