Estelle Junod ist eine 24-jährige Künstlerin aus Bern. Mit ihrer Malerei möchte sie ein positives Körpergefühl den Betrachtern*innen vermitteln, sodass sich jede Frau in ihrem eigenen Körper respektiert und wohlfühlt. In den letzten zwei Jahren hat sie sich besonders intensiv der Darstellung der weiblichen Sexualität gewidmet. Am 2. und 3. Juli 2022 hatte sie ihre allererste Vernissage ihrer Ausstellung «FrauSein» in Bern. Estelle wuchs nämlich zu Hause unter sehr konservativen Umständen auf, sodass all die Themen rund um das Frau sein für sie schon immer tabu waren. In zahlreichen Gesprächen in ihrem Umfeld erkannte sie, dass sie damit nicht allein ist. Wie mehr Gleichberechtigung und Respekt für Frauen sowie für die LGBTQ+ Community mit einem offeneren Umgang über die sexuelle Identität zusammenhängen, erfährt ihr im Interview. Von Irem Neseli
Auf deinem Social Media Account appellierst du für Respekt und Liebe für alle Körper. In welchem Bereich hast du den Eindruck, dass unsere Körper nicht genügend respektiert werden?
Ganz aktuell ist die Regelung in den USA über den Schwangerschaftsabbruch ein Beispiel dafür, dass unser Körper als Frau nicht den Respekt erhält, der ihm zusteht. Es ist ein vollkommen respektloser Umgang, wenn ein Fremder über meinen Körper bestimmen kann. Umso schlimmer, wenn es der Staat selbst ist, der eigentlich für die persönliche Unversehrtheit unseres Körpers zu sorgen hat. Ein weiterer Bereich wäre auf dem Arbeitsmarkt, wenn die Einstellung einer Frau davon abhängt, ob sie demnächst eine Schwangerschaft plant oder nicht, wovon auch ihre finanzielle Sicherheit stark betroffen ist.
Hast du persönlich auch die Erfahrung gemacht, als Frau in deinem Körper nicht genügend respektiert worden zu sein?
Es ist schon mal vorgekommen, dass in meinem engen Bekanntenkreis jemand unterwegs im ÖV einfach am Hintern berührt worden ist, und ich bin mir sicher, dass das leider kein Einzelfall ist. Letztens habe ich einen Mann gedatet, den ich schon eine Weile kannte. Er ist einfach davon ausgegangen, dass er gleich mit mir schlafen könnte, nur weil ich offen über die weibliche Sexualität spreche und meine Kunst sich damit befasst. Eine grössere Respektlosigkeit kann ich mir nicht vorstellen.
Die Gesellschaft geht unterschiedlich mit dem weiblichen und männlichen Körper um. Welches sind für dich die Hauptpunkte?
Im Sport beispielsweise können Frauen gar nicht über ihre Menstruationsbeschwerden sprechen. Eine chinesische Schwimmerin antwortete neulich einem Reporter, als dieser sie fragte, wie es ihr gehe, dass sie aufgrund ihrer Periode gerade unter starken Rückenschmerzen leide. Der Reporter war überfordert und wusste nicht, wie er darauf reagieren soll.
Wie kam es dazu, dass deine Kunst sich auf den entblössten weiblichen Körper fokussiert?
Ich fing schon sehr früh an, mich mit der ganzen Weiblichkeit auseinanderzusetzen. Mit meinen Eltern haben wir nämlich nie darüber gesprochen, was es bedeute, zu einer jungen Frau heranzuwachsen und was alles auf mich zukommen würde. Besonders während meiner Berufsmaturität zur Fachfrau Gesundheit habe ich sehr viel gemalt, weil es mir auch half, den Stress abzubauen. Dabei zeichnete ich intuitiv den weiblichen Körper. Wieso der Körper dabei entblösst ist, kann ich dir auch nicht sagen. Aber die Nacktheit des Körpers hat für mich eine weitergehende Bedeutung. Der Körper umfasst all die Emotionen und Erfahrungen, welche der Mensch in sich trägt und zeigt auch diese in ihrer Nacktheit auf. Dabei will ich gar nicht den weiblichen Körper sexualisieren. Ich finde es auch immer sehr schade, wenn man als Erstes so denkt. Mein Ziel ist es, das Frau sein in ihrer ästhetischsten Form wiederzugeben.
Was bedeutet für dich Frau sein?
Ich bin mit dem typischen Frauenbild aufgewachsen, bei dem die Frau sich um den Haushalt kümmert und sehr vom Mann abhängig ist, sei es emotional oder finanziell. Daher war für mich klar, dass ich eine starke, unabhängige Frau werden wollte und keinen Mann brauche, um irgendetwas zu erreichen. Dabei verstehe ich unter dem Frau sein auch, dass ich einfach ich selbst sein und meine Gedanken und Emotionen frei ausdrücken kann.
Der Weg zur Unabhängigkeit ist nie leicht, welchen Herausforderungen bist du dabei begegnet?
Vor allem mit viel Kritik von Seiten meiner Eltern, besonders von meiner Mutter, da sie sich einen ganz anderen Weg für mich vorstellte als ich. Sie wollte zum Beispiel überhaupt nicht, dass ich mich mit Kunst befasse, erst gar nicht nackte Frauen male. Wenn es nach meiner Mutter ginge, wäre ich jetzt am besten verheiratet und hätte schon Kinder. Langsam merkt sie zwar auch, dass ich gut mit dem Alleinwohnen klarkomme und dass das Malen mich sehr erfüllt und glücklich macht. Ich glaube, dass sie innerlich stolz auf mich ist, es jedoch nicht zeigen kann.
Wie würdest du deine Kunst von pornografischen Darstellungen abgrenzen und wie gehst du mit Kritik um?
Also Kritik habe ich nur von meinen Eltern erhalten (lacht). Von allen anderen nur positive Feedbacks; dass sie es gut finden, dass ich das mache und mich getraue, den weiblichen Körper so darzustellen. Es ist gar nicht pornografisch, sondern eine rein ästhetische Darstellung. Besonders durch meine Farben, die ich verwende, kreiere ich eine sehr positive Stimmung und strahle positive Energie aus. In den pornografischen Bildern von anderen Künstlern ist die Stimmung eher düster, da sie meistens schwarz oder weiss als Farbe verwenden. Zudem unterscheiden sich meine Zeichnungen auch mit ihren Körperstellungen. In der Pornografie werden Frauen häufig mit offenen Beinen und oder mit ihrer Hand zwischen den Beinen oder mit einem übertriebenen Gesichtsausdruck dargestellt. Das empfinde ich als abstossend und würde es so nicht malen wollen. In meiner Kunst geht es um die Ästhetik und die positive Energie durch die Farben und Stärke der Frau. Ich habe bis jetzt auch noch nie Kritik erhalten, ausser von meiner Mama. Für sie gelten meine Bilder schon als pornografisch (lacht), aber dort arbeiten wir dran. Zu Beginn war sie sehr negativ eingestellt, konnte mich kaum verstehen und kritisierte nur. Seit ich ihr erzählte, wie wichtig es ist, darüber offen sprechen zu können, ist sie jetzt auch so weit, mir Komplimente zu meinen Bildern zu geben (kriegt Tränen).
Denkst du, deine Kunst braucht eine Altersgrenze?
Ich finde, bei meiner Kunst braucht es keine Altersbegrenzung, weil meine Kunst nicht in das Sexuelle hineingeht. Man kann durchaus behaupten, dass ein kleines Kind nicht dafür bereit ist, eine nackte Frau zu sehen. Ich finde es aber sehr wichtig, dass die Eltern mit dem Kind darüber sprechen und offen mit dem Thema umgehen, sodass das Kind nicht im Ungewissen bleibt. Es gehört alles zum Frau sein dazu und ein Kind sollte wissen, was es in der Zukunft erwartet. Die Kinder heutzutage werden ohnehin durch das Internet und die sozialen Medien in das Thema hineingezogen. Dabei kommt auf die Eltern eine umso wichtigere Rolle zu. Sie müssen dem Kind von Anfang an erklären, dass es x verschiedene Menschen mit x verschiedenen Interessen und Orientierungen gibt. Zudem sollten die Eltern dem Kind auch vergewissern, dass es selbst darüber bestimmen kann, wo es sich zuordnen will, wodurch es sich selbst wertzuschätzen lernt. Ich persönlich hatte lange eine sehr distanzierte Beziehung zu meinem eigenen Körper, weil ich tatsächlich nie darüber mit meinen Eltern sprechen konnte. Ich wuchs mit dem Muster auf, seinen eigenen Körper gar nicht zu kennen, sich selbst weder zu berühren noch zu betrachten. Das macht einen enorm verschlossen, sodass man sich einer anderen Person gar nicht öffnen kann. Deshalb habe ich auch eine grosse Freude daran, wenn Mütter mit ihren Töchtern sich meine Bilder anschauen kommen und dabei positiv über den weiblichen Körper sprechen.
Mir fällt auf, dass du die persönliche Entwicklung in Bezug auf die sexuelle Orientierung und Identität mit eigener Wertschätzung vereinbarst. Wie hängen diese zusammen?
Wenn man sich nicht selbst orientieren kann und von klein auf einfach in eine bestimmte Box hineingesteckt wird, hat man automatisch das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Man fühlt sich fehl am Platz und das ist einem oft selbst noch nicht bewusst, dass man in eine Box gesteckt wurde, zu der man gar nicht gehört. Würde man offener mit der sexuellen Orientierung umgehen und dem Kind sagen, «hey, es ist gut, wie du bist und wie du dich entwickelst, wir unterstützen dich», dann wird sich das Kind auch viel wohler und selbstbewusster fühlen und kann auch viel gestärkter in die Gesellschaft hinaustreten und weiss dadurch auch sich selbst besser zu schätzen.
Viele Eltern sind selbst noch sehr überfordert mit diesem Thema, sei es aus eigenem Unwissen oder aus kulturellen, religiösen Gründen. Müsste man das Thema vielleicht in der Schule während der Sexualkunde behandeln, bedarf diese vielleicht Reformen?
Mir ist nicht bekannt, wie der Aufklärungsunterricht heutzutage gehalten wird. Zu meiner Zeit hat man geschlechtergetrennt die Themen angeschaut, wie bspw. unsere Geschlechtsorgane aufgebaut sind und wie man sich beim Geschlechtsverkehr am besten schützen kann. Das ist viel zu distanziert und mechanisch. Es wird gar nicht behandelt, wie wichtig es ist, zuerst eine Beziehung zum eigenen Körper aufzubauen und diese aufrechtzuhalten, bevor man überhaupt den Schritt wagt, mit jemandem zu schlafen. Auch die Bedeutung, mit jemandem intim zu werden, wurde gar nicht angesprochen. Ich denke, es bedarf definitiv diese Ergänzungen als spirituelle Komponente. Ausserdem wurde auf den Einzelnen auch nicht individuell eingegangen. Es hätte früher vieles mehr erleichtert, wenn es eine Person gegeben hätte, die in die Schule gekommen wäre und gesagt hätte, dass es ganz normal ist, wenn man sich anders fühlt als das, was einem zugeschrieben wird. Denn man wird einfach immer wieder in eine Schublade hineingesteckt, in der es nur um den heterosexuellen Mann oder die heterosexuelle Frau geht und alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Dabei sehen wir schon in der Natur und Tierwelt selbst, dass es auch ganz viele andere Möglichkeiten gibt. Daher verstehe ich nicht, wieso man nicht offener darüber sprechen kann. Es ist eine grosse Aufklärungsleistung, die erforderlich ist, aber ich denke, unsere Generation wird dieses Tabu durchbrechen und eine offenere Welt für alle ermöglichen, wenn wir selbst mal Eltern sind. Zudem finde ich, dass auf die Medien auch die grosse Aufgabe zukommt, eine genderneutrale Sprache zu verwenden, sodass keiner sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlt.
Du hast mehrmals angesprochen, dass die sexuelle Identität viel mit der Erziehung zu Hause und der Bildung in der Schule zusammenhängt. Dabei spielt oft auch die religiöse Erziehung eine entscheidende Rolle. In welchem Verhältnis steht deiner Meinung nach die weibliche Sexualität mit den religiösen Überzeugungen eines Einzelnen? Ist die religiöse Überzeugung eine Barriere zu deiner Kunst?
Es ist schwierig. Ich würde es mir sehr wünschen, dass auch körperlich verschleierte oder konservativ bekleidete Frauen meine Zeichnungen verstehen. Gleichzeitig respektiere ich aber auch vollkommen, wenn sie das nicht wollen. Ich finde, dass der Islam respektvoll gegenüber der Entscheidungsfreiheit der Frauen ist. Sie können selbst bestimmen, ob sie ihren Kopf oder Körper bedecken wollen oder nicht. Das finde ich sehr bewundernswert. Dementsprechend haben diese Frauen auch automatisch einen besseren Bezug zu ihrem eigenen Körper. Ausser sie entscheiden nicht selbst darüber und werden aus gesellschaftspolitischen Gründen dazu gezwungen. Dann ist es genau umgekehrt.
Titelbild und Beitragsbilder: Estelle Junod.