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Was passiert, wenn man Liminal Spaces mit der Ästhetik des Internets der 90er- und 2000er-Jahre vermischt und noch etwas Verwirrung hinzufügt? Weirdcore! von Julia Northfleet
Was ist Weirdcore?
Weirdcore (auch Oddcore oder Strangecore) ist eine Internet-Ästhetik, deren genauer Entstehungszeitpunkt unbekannt ist. Sie existiert vermutlich seit den späten 90er-Jahren, da Elemente des frühen Internets ein wesentlicher Bestandteil von Weirdcore-Bildern sind. Die Ästhetik erhielt jedoch erst in den frühen 2020er-Jahren grössere Aufmerksamkeit und ihren Namen.
In der Weirdcore-Community gibt es zudem die Debatte, ob Weirdcore als Kunstbewegung betrachtet werden kann. Weirdcore wird oft als moderner Surrealismus bezeichnet, da sich Weirdcore ebenfalls mit der Verfremdung des Vertrauten und der Erkundung des Unbewussten auseinandersetzt. Daher könnte Weirdcore als eine digitale Fortsetzung des Surrealismus bezeichnet werden, die sich an die Ästhetik und die Möglichkeiten des Internets angepasst hat.
Laut der Aesthetics Wiki ist Weirdcore eine surreale Ästhetik, die Fotografien oder visuelle Bilder mit niedriger Auflösung verwendet, um Gefühle wie Nostalgie (auch für eine Zeit, die man selbst nie erlebt hat), Verwirrung, Desorientierung, Angst oder Entfremdung zu erzeugen.
Von den vermittelten Gefühlen her erinnert Weirdcore an die Liminal Space-Internet-Ästhetik. Bei Liminal Spaces handelt es sich um menschenleere Übergangsorte, wie beispielsweise Flure oder Einkaufszentren, die durch ihre Architektur und/oder Beleuchtung eine seltsame, traumartige oder unheimliche Atmosphäre erzeugen. Liminal Spaces sind ein zentrales Merkmal von Weirdcore und in fast allen Fällen ein Bestandteil dieser Bilder.
Neben der Nutzung von Liminal Spaces und Elementen des frühen Internets zeichnen sich Weirdcore-Bilder durch ihre Kontextlosigkeit aus, die häufig durch schlichten Text (meistens in den Schriften Arial oder Times New Roman) verstärkt wird. Sätze, die in Weirdcore-Bilder eingebaut werden, lauten beispielsweise: «Still here?», «This is the end», «Can you see me? I can feel your eyes.» oder «No matter what the void won’t be satisfied.»
Manche dieser Sätze beinhalten Fragen, bei denen nicht klar ist, an wen sie gerichtet sind, oder sie enthalten Warnungen vor einer unbekannten Gefahr. Auf jeden Fall handelt es sich um Sätze, die viel Raum für Interpretation lassen, jedoch aufgrund ihrer Rätselhaftigkeit bei vielen Betrachtenden ein Gefühl von Unbehagen oder Grusel hinterlassen.
Es verändert sich alles zu schnell
Um ein Weirdcore-Bild zu erstellen, müssen nicht alle Schlüsselmerkmale gleichzeitig vorhanden sein, und es hängt immer von der betrachtenden Person ab, welche Gefühle die Bilder in ihr auslösen. Aber nicht nur bei den Betrachtenden haben die Bilder einen emotionalen Effekt, auch für die KünstlerInnen haben sie eine besondere Bedeutung. Durch Weirdcore können die KünstlerInnen ihre eigenen Gefühle wie Angst oder Kummer ausdrücken, ihr Unterbewusstsein erforschen und/oder vergangene Erlebnisse künstlerisch verarbeiten.
Insbesondere das Nachtrauern der eigenen Kindheit oder die Orientierungslosigkeit in der gegenwärtigen Welt sind häufige Themen, die in den Bildern zum Ausdruck gebracht werden. Da die nostalgischen Elemente in Weirdcore-Bildern oft auf Kindheiten der späten 90er- und frühen 2000er-Jahre verweisen, richtet sich Weirdcore hauptsächlich an Millennials (ca. 1981–1996) und Personen der Generation Z (ca. 1997–2010). Viele Menschen dieser Generation haben ihre Kindheit noch vor der Digitalisierung erlebt und empfinden den rasanten gesellschaftlichen und technologischen Wandel als überwältigend. Weirdcore bietet ihnen eine Möglichkeit, die mit diesem Wandel einhergehende Nostalgie, Verwirrung und Orientierungslosigkeit künstlerisch zu verarbeiten und zu reflektieren.
Dreamcore/Mainstream-Weirdcore: Ähnlich, aber anders!
Dreamcore ist eine Schwesterästhetik von Weirdcore. Beide Internet-Ästhetiken lassen sich mittlerweile schwer voneinander unterscheiden und werden häufig als Synonyme verwendet. Es herrscht grosse Uneinigkeit innerhalb der Weirdcore/Dreamcore-Community: Was die einen als Schlüsselmerkmale von Weirdcore bezeichnen, sehen andere als typische Eigenschaften von Dreamcore.
Ein oft genannter Unterschied ist, dass in Dreamcore-Bildern häufiger Pastellfarben verwendet werden, während die Bilder eher natürliche Landschaften zeigen anstatt Liminal Spaces. Zudem wird bei Dreamcore meist kein Text verwendet.
Doch es gibt zusätzlich Verwirrung in der Community: Dreamcore wird auch als Mainstream-Weirdcore bezeichnet, und umgekehrt wird Mainstream-Weirdcore als Dreamcore bezeichnet. Mainstream-Weirdcore ist die Version von Weirdcore, die auf TikTok populär geworden ist. Dennoch werden für Mainstream-Weirdcore völlig andere Schlüsselmerkmale genannt als für Dreamcore und das ursprüngliche Weirdcore. Typische Elemente des Mainstream-Weirdcore sind die häufige Verwendung von Augen, Pilzen, roten Texten, Engeln oder fliegenden Augen, die in der Community als charakteristisch gelten.
Ob die häufig verwendeten Vierecke, die eine Stelle des Bildes umrahmen, ohne etwas Besonderes hervorzuheben, schwarze Vierecke, die etwas verdecken, oder die Schattenmenschen Merkmale des ursprünglichen Weirdcore oder Mainstream-Weirdcore sind, lässt sich mittlerweile nicht mehr eindeutig sagen.
Traumacore
Eine weitere erwähnenswerte Schwesterästhetik von Weirdcore ist Traumacore, die sich deutlicher von Weirdcore abgrenzen lässt. Hier werden Elemente aus der Kindheit, wie Sanrio-Figuren (z.B. Hello Kitty), in die Bilder eingebaut, und die Texte thematisieren schwer traumatische Erlebnisse. Dabei geht es hauptsächlich um verschiedene Formen von Missbrauch in der Kindheit, aber auch um Traumata, die im Jugend- und Erwachsenenalter erfahren wurden. Traumacore hilft Betroffenen, ihre traumatischen Erlebnisse durch Kunst auszudrücken und zu verarbeiten.
Allerdings wird Traumacore in der Community auch als problematisch diskutiert. Einige kritisieren, dass die Ästhetik für traumatisierte Personen potenziell triggernd sein kann, da die visuellen und textlichen Darstellungen alte Wunden aufreissen könnten. Ausserdem wird kritisiert, dass manche KünstlerInnen Figuren oder Charaktere erschaffen, die traumatische Ereignisse erlebt haben, obwohl die Künstlerinnen selbst nichts Traumatisches erfahren haben, was als unangemessen empfunden wird.
Weirdcore Musik und Videospiele
Klar ist, dass, egal ob Dreamcore, Weirdcore oder Mainstream-Weirdcore, sie alle gemeinsam haben, dass sie ein traumartiges Gefühl vermitteln, was sie durch ihren fehlenden Kontext erreichen. In den letzten Jahren haben sich viele Weirdcore/Dreamcore-Playlists auf YouTube und Spotify angesammelt, die dieses Gefühl verstärken. Bei der Weirdcore/Dreamcore-Musik handelt es sich jedoch nicht um ein konkretes Musikgenre, sondern um eine Ansammlung von Liedern unterschiedlicher Genres, die dieselben Gefühle wie beim Betrachten der Bilder auslösen sollen. Meist handelt es sich um Musik mit verzerrten, traumartigen oder unheimlichen Klängen, die das Gefühl verstärken zwischen Traum und Realität zu schweben.
Diese Playlist beinhaltet typische und oft verwendete Lieder, die in verschiedenen Weirdcore/Dreamcore-Edits und -Videos in den sozialen Medien verwendet werden.
Diese Playlist lässt im Hintergrund Videos laufen, die die Weirdcore/Dreamcore-Atmosphäre perfekt darstellen.
Es gibt auch Videospiele, die die gleiche Atmosphäre wie Weirdcore ausstrahlen und den Betrachtenden eine noch intensivere Erfahrung bieten als nur beim Betrachten von Weirdcore-Bildern. Ein älteres Beispiel für ein Videospiel, das man heutzutage auch als Weirdcore-Videospiel bezeichnen könnte, ist LSD Dream Emulator. Es handelt sich hierbei um ein Videospiel aus 1998 für die PlayStation 1, das die spielende Person durch unterschiedliche Träume reisen lässt.
Ein kurzes Gameplay von LSD Dream Emulator.
Yume Nikki ist ein weiteres Videospiel, das zur Weirdcore-Internet-Ästhetik passt. Es handelt sich hierbei um ein RPG aus dem Jahr 2004, das sich ebenfalls mit Träumen befasst, und der Soundtrack des Videospiels wird häufig in Weirdcore/Dreamcore-Videos verwendet. Dieser Link führt zum Download des Spiels auf Steam.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass (Mainstream-)Weirdcore, Dreamcore und Traumacore Facetten einer Internetströmung sind, die sich künstlerisch mit surrealen und emotionalen Themen auseinandersetzt. Egal, ob es um das Eintauchen in Nostalgie oder das Verarbeiten von Traumata geht, jede dieser Ästhetiken bietet den KünstlerInnen und BetrachterInnen eine Plattform, um ihre tiefsten Gefühle auszudrücken und zu teilen. Zusammen schaffen sie eine traumartige Atmosphäre, die sowohl ansprechend als auch verstörend sein kann. In einer Welt, die sich ständig verändert, ermöglichen die Ästhetiken den Menschen, sich selbst zu reflektieren und Momente der Verwirrung und des Träumens zu erleben. Es ist ein Erleben, das die Grenzen von Realität und Traum verschwimmen lässt.
Eine weitere Ästhetik, die sich mit Nostalgie befasst: Vaporwave
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