Am 28. April hielt der umstrittene Historiker Daniele Ganser einen Vortrag im Stadtcasino Basel über den Ukraine-Krieg. Dort verbreitete er die gleichen Thesen wie die russische Kriegspropaganda, wonach die russische Invasion kein imperialistischer Angriffskrieg sei, sondern sozusagen eine vom Westen provozierte Präventivoperation. Im Folgenden werden vier von Gansers gängigsten Thesen zum Ukraine-Krieg einem Faktencheck unterzogen. Von Bruno Hunn
Daniel Gansers wichtigsten Thesen
These 1: Der Krieg in der Ukraine begann bereits im Jahr 2014 als Bürgerkrieg. Er basiert auf einem durch die USA gelenkten Putsch.
Die Bezeichnung des Euromaidan als US-gesteuerter Putsch ist schlichtweg fasch, mit welchem dem von der Kremlpropaganda verbreiteten Narrativ gefolgt wird.
Die in der Ukraine demonstrierenden Menschen waren keine Marionetten der USA. Die Zivilgesellschaft hatte sich als eine wachsende politische Kraft formiert, um angesichts des vielfältigen Versagens der ukrainischen Staatsmacht auf mehr politische Teilhabe zu dringen. Die USA sowie die EU konnten diese stürmischen gesellschaftlichen Prozesse kommentieren und moderieren, aber keinesfalls initiieren.
Putsch oder Staatsstreich meint im Übrigen, dass eine kleine Gruppe von staatlichen Funktionsträgern in einer instabilen politischen Situation die Gelegenheit ergreift, einen Umsturz herbeizuführen und die Macht zu ergreifen. Der Euromaidan war aber nicht die politische Aktion einer kleinen Gruppe, sondern eine revolutionäre Volksbewegung. Schon von der wissenschaftlichen Begrifflichkeit her passt die Putschthese nicht.
Durch den Euromaidan wurde der damalige Präsident Janukowitsch auch nicht gestürzt; er floh vielmehr nach Russland, weil er sowohl die Unterstützung seiner Partei als auch die der Sicherheitsapparate verloren hatte. Anders als im Rahmen internationaler Vermittlung abgesprochen, entzog er sich damit seiner politischen Verantwortung, einen geordneten Regierungswechsel auf den Weg zu bringen.
These 2: Die Bewohner von Krim und Donbass haben demokratisch in Referenden entschieden, Bürger Russlands zu sein.
Der Euromaidan löste keinen Bürgerkrieg in der Ukraine aus. Die Annexion der Krim war – wie Putin und der Kreml bald selbst stolz erklärten – ein geheimdienstlich sorgsam in Moskau vorbereiteter Landraub und keineswegs eine Abspaltung. Den Scheinreferenden fehlt jegliche demokratische Legitimität. Die Höhe der Wahlbeteiligung und der Zustimmung ist stark verfälscht wiedergegeben worden, wie russische Regierungsstellen selbst einräumten.
Auch im ostukrainischen Donbass gab es im Frühjahr 2014 zwar Unmut angesichts der politischen Entwicklungen in Kiew, aber keinen starken politisch organisierten Separatismus. Nur die massive russische Einmischung führte dazu, dass die beiden sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk als mafiös verfasste Pseudostaaten von Moskauer Gnaden entstanden. Sie boten dem Kreml die Möglichkeit, jederzeit destabilisierend auf die politische Situation in der Ukraine einwirken zu können. Das im Donbass entfachte Kriegsgeschehen war ein russischer Interventionskrieg.
Der dafür zuständige Moskauer Geheimdienstler Igor Girkin hat die subversive Vorgehensweise wiederholt freimütig erläutert. Zudem hat die Osteuropaforschung auf solider Quellenlage ein klares Bild von diesen Geschehnissen gezeichnet. Pseudoreferenden gab es in den beiden Volksrepubliken sowie in den Gebieten Cherson und Saporischschja erst im September 2022. Sie waren eine Wahlfarce. Wir können uns doch noch alle an die durchsichtigen Wahlurnen erinnern, in denen die Wahlzettel offen eingesehen werden konnten. Zudem gingen Wahlteams zusammen mit bewaffneten Soldaten von Tür zu Tür, um die Menschen zur Abstimmung anzuhalten. Wer das als einen demokratischen Prozess bezeichnet, muss mit einer blühenden politischen Fantasie gesegnet sein.
These 3: Deutschland befindet sich durch Waffenlieferungen und Ausbildung von ukrainischen Soldaten im Krieg mit Russland.
Das Kriegsvölkerrecht erlaubt es im Fall eines Angriffskriegs, dass Drittstaaten das überfallene Land mit allem zu seiner Verteidigung Notwendigen unterstützen. Dazu gehören auch Waffenlieferungen. Nach langen Diskussionen hat sich Deutschland entschlossen, von seinem Recht auf Unterstützung der Ukraine Gebrauch zu machen und Panzer zu liefern, die dort dringend benötigt werden. Völkerrechtlich gesehen ist Deutschland damit keineswegs Kriegspartei geworden.
These 4: Während Russland seine Soldaten aus der ehemaligen DDR abzog, haben die USA Russland mit der Nato-Osterweiterung im Jahr 1999 weiter provoziert.
Diese These ist altbekannt und dient dazu, Russland zu entlasten und der Nato sowie den USA zumindest eine Teilschuld am aktuellen Kriegsgeschehen zuzuweisen. Das vom Kreml verbreitete Zerrbild vom durch die Nato umzingelten, ständig gedemütigten und bedrohten Russland vermittelt die Vorstellung, Russland agiere immer aus einer strategischen Defensive heraus. Die Annexion der Krim lässt sich so als Akt politischer Notwehr und der aktuelle Angriffskrieg als ein Präventivkrieg verkaufen.
Die Ursachen für den russischen Angriffskrieg liegen nicht in geostrategischen Großmachtkonkurrenzen, in dem Ringen um Einflusszonen und in kapitalistischer Profitgier, sondern in den neoimperialen Ambitionen von Putins Revanchismus und Revisionismus, die ganz auf seinen Machterhalt konzentriert sind. Weil Putin nicht als Modernisierer Geschichte schreiben kann, will er es unbedingt als Kriegsherr und Eroberer, um so die Gesellschaft hinter sich zu zwingen.
Der Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten zur Nato in mehreren Erweiterungsrunden seit 1999 ist sicher ein zeithistorischer Streitfall. Dabei ist zu bedenken, dass der Beitrittswunsch von den ostmitteleuropäischen Staaten an die Nato herangetragen wurde, weil diese ihre 1989 und 1991 erworbene vollumgängliche Souveränität durch das Erstarken neoimperialer Kräfte in Russland bedroht sahen. Mit dem ersten Tschetschenienkrieg 1994–96 hatte Moskau klargemacht, bei der Durchsetzung seiner Machtinteressen auch massive militärische Gewalt einzusetzen.
In der Nato gab es kontroverse Diskussionen um die Osterweiterung. Um die Sicherheitsinteressen Russlands mit zu berücksichtigen, kam es deshalb 1997 zur Unterzeichnung der Nato-Russland-Grundakte und 2002 zur Gründung des Nato-Russland-Rats. Diese Abkommen sahen vor, dass in den neuen Nato-Mitgliedsstaaten nie mehr als 5.000 Nato-Soldaten stationiert werden sollten. Zudem wurden dort keine Militärstützpunkte errichtet. So kam es zu keiner militärischen, sondern nur zu einer politischen Osterweiterung. Das macht einen erheblichen Unterschied.
Die Administration von George W. Bush drängte auf den Bau von Raketenabwehrstationen in Polen und Rumänien. Bushs Raketenabwehr diente dazu, sich gegen aus dem Nahen Osten abgeschossene Langstreckenraketen zu verteidigen – aber Russland bezog diese Abwehrmaßnahme auf sich.
Der US-Vorschlag, in einer neuen Erweiterungsrunde Georgien und die Ukraine in die Nato aufzunehmen, traf nicht nur in Moskau auf harsche Kritik. Auf dem Bukarester Nato-Gipfel im April 2008 legten Deutschland und Frankreich darum ihr Veto ein, auch um die Beziehungen zu Russland nicht weiter zu verschlechtern.
Als Kompromiss entschied die Nato damals, kein Beitrittsverfahren zu eröffnen, aber im Rahmen der “Politik der offenen Türen” Georgien und der Ukraine in Aussicht zu stellen, sie könnten in der Zukunft einen Aufnahmeantrag stellen, sollten die Beitrittskriterien erfüllt sein. Damit steht bis heute der Nato-Beitritt der Ukraine nicht mehr auf der Tagesordnung der europäischen Politik, selbst wenn die Regierungen in Kiew ihr Beitrittsziel beständig untermauerten und die USA die Rhetorik der offenen Türen wiederholte, ohne aber konkrete Schritte einzuleiten.
So umstritten die Bush-Initiative 2008 auch war – es ist überzogen, daraus ein Bedrohungsszenario für Russland abzuleiten, um damit den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu legitimieren.
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Als Quelle für diese Analyse siehe Gestwa, Klaus: Daniele Gansers Ukraine-Behauptungen im Faktencheck, in: t-online. Nachrichten für Deutschland, 07.04.2023.
Titelbild: Fachgruppe Geschichte
Erschütternd, wie hier die Tatsachen verdreht werden ! Die Verfasser sollten mal die “Strategiepapiere” des Pentagon lesen, die sich sogar in dem Vorschlag versteigen, Russland nach und nach mit einem Abwehrraketenschirm zu “umzingeln” und dann mit eine Atombombe zu “erledigen”. Nein, das ist kein Scherz, das ist eine Idee des Chefideologen im Pentagon !