Finnlands Nachbarschaft mit Russland, früher mit der UdSSR, ist seit je her angespannt. JetztZeit wollte wissen, wie sich der russische Angriffskrieg auf die finnische Gesellschaft ausgewirkt hat. Auskunft gegeben hat uns Tiimo*, ein 33-jähriger Übersetzer aus Turku. Von Anniina Maurer
Hallo Tiimo, der Krieg zwischen Russland und der Ukraine dauert nun schon über eineinhalb Jahre. Weisst du noch, wie du den Angriff am 24. Februar 2022 erlebt hast?
Ich erinnere mich, dass Anfangs Februar verschiedene Länder ihre Staatsbürger dazu aufforderten, die Ukraine zu verlassen. Die russischen Vorbereitungen, ihre Streitkräfte an der Grenze aufzustellen und die NATO zu kritisieren, blieben nicht unbemerkt. Trotzdem war der 24. natürlich ein Worstcase-Szenario und ein Schock. Er blieb auch viele weitere Monate bei uns in den Schlagzeilen und ist es noch bis heute. Ich denke, ich reagierte, in dem ich mir die Zeit nahm, die laufende Situation genau zu verfolgen. Ich fühlte mich machtlos aber versuchte zu helfen und zu unterstützen, in dem ich zum Beispiel am 26. demonstrieren ging und Geld spendete.
Und wie reagierte die finnische Gesellschaft?
Auf politischer Ebene waren sich Regierung und Opposition erstaunlicherweise einig und verurteilten Russland klar. Sie drängten die EU auch geschlossen, der Ukraine zu helfen. Nach dem 24. Februar gab es in ganz Finnland schnell Solidaritäts-Demonstrationen. Ich war am 26. an einer solche Demonstration in Turku. Wir waren etwa 1000 Menschen, das sind für Turku sehr viele. Auch in grösseren Städten kam es zu Kundgebungen, etwa vor den Russischen Botschaften und überall tauchten Ukrainische Fahnen auf. Positiv waren auch die Spendensammlungen, die immer noch andauern. Städte bauten Flüchtlingsunterkünfte für Ukrainer und helfen ihnen, sich hier einzuleben. Ich denke, die Menschen zeigten ihre Hilfsbereitschaft auf ganz unterschiedliche Arten.
Hat sich diese Haltung bis heute verändert?
Ich denke, als Kiew nicht fiel und der Krieg andauerte, schlug das allgemeine Gefühl von Schock in Wut um. Ein Teil der Wut richtete sich gegen russische Leute, aber ich würde sagen, dass generell die russische Führung verantwortlich gemacht wird.
Unsere Grenzen blieben erstaunlich lange offen und einige Leute aus der Grenzregion fuhren noch länger nach Russland, um dort billiger zu tanken. Die Öffentlichkeit machte aber immer mehr Druck, die Grenzen zu schliessen und auf russischen Kraftstoff zu verzichten. Teboil-Tankstellen, die russisches Benzin verkaufen, wurden boykottiert. Auch wenn die Grenzen nicht ganz zu sind, kam der Grenzverkehr fast ganz zum erliegen. Die Situation hat sich beruhigt. Die Ukrainischen Fahnen sind aber immer noch sichtbar, es werden weiter Spenden gesammelt und der Krieg wird medial eng begleitet.
Hat seit dem Krieg auf der anderen Seite auch der Nationalismus zugenommen oder gibt es da, deiner Meinung nach, keinen Zusammenhang?
Ich denke, der Nationalismus war in Finnland schon vor dem Krieg sehr präsent. Letzten Frühling wurde eine rechte Regierung gewählt, aber das liegt, denke ich, nicht am Krieg, sondern eher am Erstarken der Rechten in ganz Europa.
Vor allem zu Beginn des Krieges kam auch Russophobie auf. Ich denke aber nicht, dass man nationalistisch sein muss, um den russischen Angriffskrieg zu verurteilen. Ich denke, da geht es mehr um die europäische Einigkeit und um den Schutz europäischer Werte. Ich glaube, die finnische Gesellschaft ist sich ziemlich einig in ihrer Sicht auf den Krieg, so dass nationalistische Kräfte ihn nicht für sich vereinnahmen konnten.
Finnland wurde selbst im Zweiten Weltkrieg von der UdSSR attackiert, es können Parallelen zur heutigen Situation der Ukraine gezogen werden. Denkst du, diese Erfahrung hat noch einen Einfluss auf die heutige Mentalität und das Sicherheitsgefühl in Finnland?
Ja. Der Winterkrieg und der Fortsetzungskrieg haben in Finnland eine schon fast mythische Dimension. Am Unabhängigkeitstag läuft zum Beispiel immer ein Filmklassiker, der auf dem finnischen Bestseller ‘Tuntematon Sotilas’ («Der unbekannte Soldat») basiert und Veteranen sind sehr hoch angesehen. Wir werden oft an die Opfer des Weltkrieges erinnert, an die verlorenen Gebiete und die Reparationen, die Finnland über Jahrzehnte zahlen musste.
Ich denke, gerade für älteren Generationen ist dieses Trauma noch sehr präsent. Das könnte auch ein Grund sein, warum das Militär hier so populär ist und als notwendige Pflicht gilt. Ich hatte das Gefühl, dass sich diese Einstellung bei den Jungen vor dem russischen Angriff verändert hat. Wie der Krieg die Einstellung zur Armee verändert hat, werden wir wohl erst in der Zukunft sehen.
Welche Position hat denn die Armee in der finnischen Gesellschaft generell?
Ihre Position ist definitiv stark. Meiner Meinung nach, ist es fast verboten, sie in Frage zu stellen, was sich etwa in Budget-Fragen zeigt: In fast allen Sektoren kann es Kürzungen geben, ausser beim Militär. Weil alle Männer mit 18 Wehrdienst leisten müssen, haben die meisten Menschen einen persönlichen Bezug zur Armee. Viele Brigaden sind auch bei oder in den Städten, so dass uniformierte Soldaten alltäglich sind. Der Militärdienst wurde früher als eine Art eigene Welt gesehen, wo sich Jungen rituell in Männer verwandelten. Das hat sich zum Glück geändert. Heute ist das Militär ist offener geworden beim Wehrdienst und auch Frauen dürfen eintreten.
Und was ist deine Meinung zum Militär?
Ich machte meinen 6-monatigen Wehrdienst 2009. Nicht, weil ich mich besonders verpflichtet gefühlt hätte oder Finnland hätte verteidigen wollen, sondern weil es damals der einfachste Weg war. Die Alternativen wären einen Einsatz von 12 Monaten gewesen oder 173 Tage im Gefängnis wegen Dienstverweigerung. In Finnland ist man eigentlich bis 60 in der Reserveeinheit, ich bin aber diesen Sommer aus ihr ausgetreten. Dafür gab es viele Gründe, aber der andauernde Krieg und der NATO-Beitritt war der letzte Tropfen. Ich denke nicht, dass eine Dienstpflicht für Männer Teil einer modernen Gesellschaft sein sollte, der Krieg wird ihn aber wohl für eine lange Zeit zementiert haben.
Findest du es bedenklich, dass das Militär Angesichts der russischen Aggressionen legitimer erscheint oder bist du auch dieser Meinung?
Ich finde es traurig, dass Finnlands Strategie, die Armee zu stärken, während viele andere europäische Länder sich nach dem Zweiten Weltkrieg entmilitarisierten, sich letztlich als richtig herausstellte. Man kann eine militärische Attacke nur mit einem Militär stoppen. Im Nachhinein denke ich, die EU hätte stärkere Streitkräfte aufbauen sollen, damit sie sich nicht so abhängig von der NATO macht.
Was hältst du vom NATO-Beitritt Finnlands?
Um es kurz zu halten: Es ist ein notwendiges Übel. Ich glaube nicht, dass Russland uns eine andere Wahl gelassen hat. Russland hat gezeigt, was es von seinen Nachbarländern hält und weil es innerhalb der EU oder den nordischen Ländern kein Verteidigungsbündnis gibt, war die NATO die einzige Option.
Das Interview fand auf Englisch statt und ist im Original unten aufgeführt.
Original interview
Hei Tiimo. The war between Russia and Ukraine lasts now over one and a half year. Do you still remember, how you reacted to the russian attack on 24. February 2022?
I remember following how nations started to recommend that their people living in Ukraine leave the country earlier in February. The Russian preparations, with moving forces near the border and speaking against NATO didn’t go unnoticed, but the 24. was of course a worst-case scenario and shocking. It was of course the main news for many months after the 24. and I followed it quite intensively in different medias for a long time, and still do almost daily. I would say I reacted by dedicating time to follow the ongoing situation closely. Feeling powerless, but somehow trying to help and show support, by e.g., taking part in a demonstration on the 26. and starting to donate money to support organizations.
And how did the finnish society or your personal surrounding react?
On a governmental level the governing and opposition parties got surprisingly united in condemning Russia and urging and backing the EU to help Ukraine. After February 24 demonstrations to support Ukraine started getting organized quickly around Finland. I was in one in Turku on February 26 (there were around 1000 people, which is a big number for Turku). These carried on in the bigger cities and outside Russian consulates, and Ukrainian flags became visible all over. Other positive signs were the organised donations to Ukraine, which still carry on. Cities started building facilities for refugees from Ukraine and trying to help them settle here. I think people showed a big willingness to help and organize help in different ways.
Did this attitude change over the time?
When the attack didn’t result in Kiev falling, and the war just kept on going I think people had time to get angrier, from being shocked in the beginning. Some of this anger was directed towards Russian people, but I would say that the public opinion has been that the Russian leadership is responsible for this war. The border stayed open for a surprisingly long time, and some people who live near the border kept driving to Russia for cheaper gasoline.
The public pressure to close the border and stop using Russian gasoline got bigger and bigger, and the Teboil-servicestations, which sell Russian gasoline, were subjected to boycotts. Despite the border not being completely closed most of the traffic has stopped and I think the situation has calmed down as the war has kept on going. The Ukrainian flags are however still visible, and donations are still being organized, and the news cover the war intensely.
Did nationalism in Finland rise too since the war or is there in your opinion no connection?
In my experience nationalism has always been really high in Finland. We have a recently elected right-wing government, but I don’t think the war is the reason for this, it’s rather a part of the rise of right-wing politics in Europe. Even though the war, especially in the beginning brought up some hidden Russophobia I think condemning Russia’s attack Ukraine is so obvious that there’s no need for any nationalism behind it. I think it’s more a case of European unity and protecting European values. I think the Finnish people have a very united view on the war, so nationalistic parties have not been able to harness it to their own purposes.
Finland was attacked by the USSR in Second World War, a situation one may compare to Ukraine today. Do you think this experience still has an influence on the finnish Society and its demand for safety?
Absolutely. I think the Winter War and Continuation War have gotten an almost mythical status in Finland. For example, there’s a movie about the Continuation War shown on TV every Independence Day, who bases on the finnish bestseller ‘Tuntematon Sotilas’ («Unknown Soldier») and veterans are highly regarded. We are often reminded of the sacrifices in WW2, with the lost areas and the war reparations Finland had to pay for many decades, and I think especially older generations are still close to this trauma. This might be a reason for the military service being so popular and that it is viewed as a necessary obligation by many. I feel this was changing among younger people before the Russian attack, but it remains to be seen how this war effects the views on the army in the future.
What Position does the Military have in finnish society in general?
It’s definitely strong. In my opinion almost forbidden to question, which is shown for example when the state budget is up for public discussion. Financial cuts can be presented in almost any other sector, except the military. The obligatory service for men aged 18 results in that most people have some connection with it. There are also many brigades located in or near cities in Finland, so you can see soldiers in service clothes in everyday settings.The military service used to be viewed as some sort of closed world separate from society with a ritual-like meaning where boys turned into men. This has luckily changed, and I think the military has opened up somewhat with more modern ways of serving and allowing women to serve.
And what do you personally think about the Military?
I did my 6-month long military service in 2009, not really because any feelings of obligation or will to protect Finland, but mainly for the simple reason that I looked at it as the easiest option at the time – the other two being non-military service for 12 months and refusal of the service with the penalty of 173 days in prison. In the Finnish system you are a part of the reserve until you turn 60. I have however withdrawn from the reserve this summer. Although there were many reasons for this, the ongoing war, which led to Finland joining NATO was the final straw. I do not think an obligatory military service for men should be part of a modern society, but I think this war has cemented the military service for a long time forward.
Do you find it alarming that Military seems to be more legitime in the face of russian aggressions or do you agree?
I think it’s sad that Finland’s way of keeping the army strong – while many other European countries disarmed their armies after WW2 – seems to have been the right choice. You can’t stop a military attack without a military, and in hindsight I think the EU should have built a stronger defence alliance, and not rely so heavily on NATO.
What do you think about Finland joining the NATO?
Putting it short, it’s a necessary evil. I don’t think Russia’s attack left any other choice. Russia has shown how it views neighbouring countries, and in absence of a serious defence alliance between Europe or the Nordic countries, NATO was the only choice.
Thank You!
* Voller Name der Redaktion bekannt.
Bild: Karlheinz Klingbeil (Helsinki)
