Herbst

von Valentin Messmer

Herbstgefühle. Kopfhörer auf und durch die Altstadt. Der Geruch von Maronen hängt in der Luft. Ich mag Esskastanien nicht, mochte sie noch nie, aber ihr Geruch wärmt mich dennoch. Dasselbe gilt für Magenbrot und gebrannte Mandeln, deren Ausdünstungen meine Nasenflügel anregen und leicht kitzeln.

Die Stände der Messe verströmen Düfte in einer Vielfältigkeit, die nur im Herbst als angenehm empfunden werden können. Dazu gesellt sich der Geruch von farbigen Bäumen, dem satten Fichtenwald und den feuchten Wiesen. Die Äpfel und Birnen wurden bereits von den Bäumen gelesen und liegen links an einem grossen Stand, als warteten sie nur darauf sich perfekt in ein mit Honig geschmortes Rotkraut zu betten. Es ist frostig und ich schlage den Kragen meines Mantels hoch. Vor meinem Gesicht bildet sich eine Wolke. Ich atme sie ein und lasse die feuchte Kälte in meine Lungen ziehen. Der Dampf von heissem Glühwein tritt hinzu und kreiert einen einzigartigen Geruch von Wärme und Kälte. Diese vielen Düfte treten aus ihren Urhebern hervor und vereinigen sich zu einem satten Parfüm, dass sich Herbstgeruch nennt. Eine eigenartige Mischung. Eine süssfruchtige Kopfnote, die einer sattwarmen Herznote die Hand gibt. Beides kehrt sich unmerklich zu einer amtlich einsamen Basis. Diese komplexe Blume hängt dumpf über den Ständen der Messe wie eine Glocke, die zur weihrauchdichten Andacht ruft.

Durch den Hauch dringen die Stimmen der zusammengedrängten Menschen nur schwach. Das Kreischen der Kinder und das bauchige Lachen der angetrunkenen Männer versuchen angestrengt herauszustechen. Das leise Flüstern der zusammenstehenden Frauen hebt sich nicht heraus und wird zu einem weissen Rauschen. Die Polyphonie kontrapunktiert die frühabendliche Stille, die sich aus den Wäldern herausstielt. Unbemerkt wird sie die Stimmen nach einem letzten Ansetzen zum da capo überwinden. Das Ende vom Lied der Stimmen ist ihrem Anfang gleich. Nur die Konzentration und Anspannung mit der die Leute das Ansetzten der Stimmen erwarten wird einer Unachtsamkeit geschwunden sein. Darin erhebt sich die wieder von der Leine gelassene Ruhe, die sich unorganisiert unter die Menge schleicht. Ich höre die Stille bereits in den Stimmen der Menschen, die sich noch über ihre vergangene Arbeitswoche austauschen. Vielleicht sprechen sie auch von den Erfolgen und Niederlagen ihrer Kinder. Manche reden auch eindringlich auf ihre Partner oder Partnerinnen ein, als ob ihre erhöhten und vom Wein leicht berauschten Stimmen so besser in die Gehörgänge ihrer Gegenüber dringen könnte. Das Einzige, was es sicher bewirkt, ist, dass sie Akzente im Stimmengewirr setzten. Ein Puls, der rhythmisch die Menge vorantreibt, von Stand zu Stand, von Wochenereignis zu Wochenereignis, von Misserfolg zu Misserfolg, bis sie letztendlich von zuhause nach zuhause getrieben wurden. Doch so weit sind wir noch nicht.

Bislang ist nur zu sehen, wie ihre Stimme den Dampf ihrer Weingläser verformt. Diese Unformen werden sich später mit dem Dampf der Wiesen vereinigen und sich über die Landschaft legen. Nur dazu geschaffen, dass die Lichter, die aus den Fensterrahmen dringen nicht über die Weite hin fliehen können. Heute Abend werden sich die Strahlen der Wärme verbreitenden Lampen nicht über den Wiesen kreuzen. In dieser geschützten Ungesehenheit werden später die die Frösche umziehen. Stand nach Stand lege ich hinter mich. Weiche Menschen im Gedränge aus. Den Blick auf meine von der Feuchtigkeit dunkelbraunen Lederschuhe geheftet. Neben mir glimmt eine Zigarette auf, wirft Rauch und orange Farben in die Luft. Hellt für einen kurzen Moment die vielen Schattenformen im Menschengedränge auf. Ich lasse meinen Blick schweifen bis sie die von der Sonne und vom Wein geröteten Gesichter der Menge streifen. Erschrocken flieht mein Blick über die Isokephalie hin zum Kirchturm, dessen Spitze vom Abendrot einen goldenen Schein empfängt.

Die Sonne wärmt uns alle und sorgt für eine ausgelassene Stimmung. Ich fühle, wie die arbeitsfreie Ausgelassenheit der anderen sich in eine allgemeine Stimmung umschlägt, in der wir all die tristen Kleinigkeiten nicht wahrnehmen. Die Bagatellen fühlen wir nicht, denn der Abend ist schön, er währt noch und geniessen es. Die vollen Mägen machen die Maronenessenden glücklich. Vor allem, wenn der volle Magen mit rotem Wein süss ummantelt werden kann. Ein gewolltes Glücklichsein umgibt mich und ich lasse mich darauf ein, lasse das süsse Glück tropfenweise in ein. Ich fühle mich klebrig und glückstrunken schlendere ich mit sonnenwarmem Gesicht weiter.

Im Jetzt sein. Von Stand zu Stand, aber nicht von einem Jetzt zum anderen, sondern nur Jetzt. Brauner Stand, rotes Tuch, grünrote Äpfel, braune Baumnüsse. Schritt für Schritt. Schritt. Das Gefühl der Wärme an meinen Sohlen. Das Futter meiner Schuhe an meinen Zehen. Meine Hand streift ein Weiches. Geweitete Lungen. Die Luft verlässt gemächlich, sekundenlang meinen Körper. Kein kurzer Schmerz. Mein Körper atmet erneut. Mein Gesicht ist warm, meine Beine kalt. Hier ein Zylinder, dort Grün. Der Becher dort wird gehoben, der Dampf beschlägt eine Brille. Meter. Meter. Das warme rund zwischen meinen Fingern. Leicht geschwollene Hände. Mein Puls, Schlag für Schlag. Ich spüre es im Kopf, in meinen Beinen, harter Puls im Bauch. Es ist Zeit vergangen, gefüllt mit Momenten von Jetzt. Momenten von Jetzt, die nicht im Jetzt gemacht wurden. Zusammengesetzt.

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