Schatten und Licht der ukrainischen Moderne

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Der politische Philosoph Mikhail Minakov über Modernisierung und Demodernisierung in OsteuropaVon Oliver Sterchi und Luca Thoma

Die Post Colonial Studies beschäftigen sich meist mit Afrika, Lateinamerika oder Asien. In den letzten Jahren haben verschiedene Osteuropahistoriker versucht, das Konzept auch auf das östliche Europa anzuwenden. «Osteuropa» wird dabei weniger als fixer geographischer Raum verstanden, sondern vielmehr als eine bestimmte Ausprägung von historischen Erfahrungen.

Es handelt sich um multiethnische Gesellschaften, die von den grossen Landmächten Europas – Russland, Preussen und Habsburg – in ihr imperiales Projekt inkorporiert wurden. Aus diesen Gesellschaften entstanden in umkämpften und konkurrierenden Nationbuilding-Prozessen Staaten.

Der Kollaps der sowjetischen Industriemoderne und seine Folgen

Gerade die Ukraine bietet hierfür ein schönes Anschauungsbeispiel. Der renommierte ukrainische Politikwissenschaftler und Philosoph Mikhail Minakov hielt am Dienstagabend im Hörsaal der Alten Uni einen Vortrag zum Thema «Demodernization in Post-Soviet Societies: The Case of Ukraine». Minakov diagnostizierte für die Länder des post-sowjetischen Raums einen «Bruch» der Moderne.

Nach dem Kollaps der sowjetischen Industriemoderne 1991 seien die post-sozialistischen Staaten auf dem Weg zurück in vormoderne Zeiten. Minakov macht seine Beobachtungen unter anderem am wieder erstarkten Stellenwert der Religion als auch einem Niedergang demokratischer Strukturen in diesem Raum fest. Er bezeichnete diese Entwicklung als «Verrat an der Rationalität».

Die Janusköpfigkeit der Moderne

Die «Moderne» als Epoche und Geisteshaltung ist ohnehin ein zweischneidiges Schwert: Einerseits birgt sie das Versprechen auf Emanzipation und Fortschritt in sich, andererseits hat sie das inhärente Potenzial, totalitäre Herrschaftsstrukturen zu erzeugen. Autoren wie Theodor W. Adorno oder Zygmunt Bauman haben auf diese Janusköpfigkeit der Moderne hingewiesen. Minakov diagnostizierte denn auch in Bezug auf die post-sowjetische Ukraine: «Moderne Ideale wurden in ihr Gegenteil verkehrt und von verschiedenen Akteuren für deren eigenen Zwecke verwendet».

Zwar sei in den postsowjetischen etwa die Gewaltenteilung de jure in der Verfassung festgeschrieben, doch in der Realität habe sich eine Top-Down-Machtvertikale etabliert, die von archaisch anmutenden Clanstrukturen dominiert werde. Dies gilt freilich nicht nur für die Ukraine, sondern auch en gros für die anderen post-sowjetischen Staaten wie Georgien oder nicht zuletzt das ehemalige imperiale Zentrum: Russland.

Regionalismen im Aufwind

Minakov wies explizit darauf hin, dass «Osteuropa» im Allgemeinen und die Ukraine im Besonderen keine Ausnahme seien, was den «Rückzug» der Moderne angehe. So sehen wir in vielen europäischen Staaten das Wiedererstarken von sezessionistischen Bewegungen, etwa in Katalonien, Schottland oder eben im Donbas.

Der Nationalstaat als geradezu paradigmatische Institution der Moderne wird im Osten als auch im Westen herausgefordert. Seine Stellung als universelles ordnungsstiftendes Prinzip kommt mehr und mehr ins Wanken. An seine Stelle treten Regionalismen, also lokale — und in diesem Sinne vormoderne — Loyalitätsbeziehungen.

Doppelte Kolonisierung, mehrere Modernitäten

Dem zum Trotz erkannte Minakov in Osteuropa eine gewisse Singularität, die er auf die Erfahrung der «doppelten Kolonisierung» zurückführte. Einerseits wurden im Verlauf der letzten 300 Jahre westliche moderne Institutionen in Osteuropa implementiert, etwa die Idee eines stehenden Heeres oder einer modernen Bürokratie, andererseits gab es auf lokaler Ebene stets Bestrebungen, diese Institutionen und Praktiken zu unterwandern und eine «Gegen-Moderne» zu etablieren. Minakov sieht in dieser Doppelbewegung eine historische Konstante für die Länder und Gesellschaften des östlichen Europa. Analytisch fasste er dieses Phänomen mit Shmuel Eisenstadts Begriff der «multiple modernities», der mehrfachen Modernen, die sich überlagern und zuweilen auch miteinander in Konflikt geraten.

Um auf das Beispiel Ukraine zurückzukommen: In dem post-sowjetischen Land können eine nominell «moderne» Verfassung und Bürokratie parallel zu archaischen Clanstrukturen existieren, ohne dass das Gebilde zusammenkrachen würde. Im Gegenteil: Minakov sah in diesem Phänomen eine soziale Realität, die sich mit den herkömmlichen (westlichen) Begriffen nicht fassen liesse. «In Osteuropa dominiert eine politische Philosophie, ohne dass es einen Philosophen gäbe, der diese zuvor ausformuliert hat. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, dass unser Begriffsarsenal überfordert», so Minakov.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

In einem übergeordneten Zusammenhang ging es bei dem Vortrag also auch um die Frage, ob westliche Konzepte und Begriffe universelle Gültigkeit beanspruchen können. Minakov beantwortete dieses Problem nicht abschliessend, was angesichts der ausufernden Debatte in diesem Feld auch gar nicht innert 45 Minuten zu leisten wäre.

Trotz seiner eher pessimistisch gefärbten Ausführungen wagte der ukrainische Akademiker am Schluss doch noch einen optimistischen Ausblick: Das inhärente Potential der Moderne sei, dass sie sich stets selber reflektiere. Und Reflektion ist bekanntlich der erste Schritt zur Verbesserung der Verhältnisse.

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Kategorisiert in Essay

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