Wie Jan Matejko mit seinen monumentalen Gemälden die Vorstellungen von der polnischen Geschichte prägte. Von Oliver Sterchi

Es gilt als das bekannteste Gemälde Polens: Jan Matejkos Schlacht bei Grunwald (polnisch: Bitwa pot Grunwaldem). Das monumentale Bild entstand 1878, ist über vier Meter hoch und über neun Meter breit und hängt heute an prominenter Stelle im Nationalmuseum in Warschau, wo es täglich von unzähligen polnischen Schulklassen betrachtet wird. Keine Hauptstadt-Exkursion ohne einen Besuch im Künstlerpantheon der Nation. Matejko, der vornehmlich in Krakau wirkte, verarbeitet in seinem Gemälde die historische Schlacht von Grunwald im Jahre 1410, bei der die Truppen des polnischen Königs Wladyslaw II. Jagiello den Deutschen Orden unter dem Kommando Ulrichs von Jungingen besiegten.

Die Schlacht nimmt heute einen zentralen Platz in der polnischen Erinnerungskultur ein und ist der sinnstiftende nationale Mythos schlechthin – vergleichbar etwa mit dem Rütlischwur in der Schweiz. Das hat jedoch weniger mit dem historischen Ereignis an sich zu tun, sondern vielmehr mit dessen Stilisierung im 19. Jahrhundert, bei der Matejkos Gemälde eine zentrale Rolle spielte (und nach wie vor spielt). Um das zu verstehen, muss man betrachten, in welchem Kontext das Bild entstanden ist und wie es seither rezipiert wurde.

Imagination der Vergangenheit

In der primär auf schriftliche Quellen fokussierten Geschichtswissenschaft blieb eine systematische Auseinandersetzung mit Bildern lange Zeit aus. Man überliess das Feld den Kolleginnen und Kollegen aus der Kunstgeschichte und betrachtete Gemälde als nachgeordnete und historiografisch wenig relevante Illustrationen von historischen Ereignissen. Eine genuin geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit Bildern setzte erst in den letzten zwanzig Jahren ein und wurde im deutschsprachigen Raum massgeblich vom Basler Professor Gottfried Boehm beeinflusst. Boehm ging über eine Untersuchung der Bildaussage hinaus und fragte nach den Eigenarten des Rezeptionsprozesses.

Und hier kommt die Geschichtswissenschaft ins Spiel: Historikerinnen und Historiker verstehen Gemälde heute nicht mehr als simple Illustrationen, sondern als sinnbildende und sinnstiftende Vergegenwärtigung von Vergangenem.

Ein Historiengemälde zeigt nicht das historische Ereignis, wie es wirklich war, sondern die Vorstellung, die sich der Maler und seine Zeit davon machten. Eine geschichtswissenschaftliche Bilduntersuchung fragt also nach den Imaginationen von Vergangenheit, die in einem Gemälde zum Ausdruck kommen, und untersucht deren Funktion im Diskurs der jeweiligen Erinnerungsgemeinschaft.

Mythos und Patriotismus

Was bedeutet dies nun mit Blick auf Jan Matejkos Schlacht bei Grunwald? Das Gemälde entstand in einer Zeit, als Polen auf der Landkarte nicht als eigenständiger Staat existierte. Ende des 18. Jahrhunderts hatten die europäischen Mächte Preussen, Russland und Österreich das Königreich Polen-Litauen unter sich aufgeteilt.

Erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 sollte Polen seine Unabhängigkeit wiedererlangen. Als Jan Matejko jedoch 1838 in Krakau zur Welt kam, war das Land noch fest in den Händen der Teilungsmächte. Für die polnischen Eliten war die Teilung und der Verlust der Eigenständigkeit eine Schmach: In der frühen Neuzeit war die «Königliche Republik der polnischen Krone und des Grossfürstentums Litauen», die sogenannte Rzeczpospolita, noch eine bedeutende Territorialmacht und der Hegemon des östlichen Europa gewesen.

Wenn es schon keinen polnischen Staat mehr gab, dann sollte die polnische Nation wenigstens auf Notenblättern, Buchseiten und Leinwänden weiter existieren.

Nach 1795 jedoch befand sich das Territorium zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer unter der Fuchtel von Berlin, Wien und St. Petersburg. Insbesondere im preussischen und russischen Teilungsbereich setzte bald eine aggressive Germanisierungs- bzw. Russifizierungspolitik ein. Als Reaktion darauf formierte sich eine polnische Nationalbewegung, die dem äusseren Assimilierungsdruck eine künstlerische und intellektuelle Zelebration des «Polentums» entgegenstellte.

Hier spielte vor allem die Literatur eine tragende Rolle, die – beschwingt vom Geist der Romantik – das mythisch-patriotisch aufgeladene Bild von einer schicksalsgeprüften Nation entwarf. Auch Musiker und Maler verschrieben sich und ihr Werk zunehmend dieser patriotisch-erbaulichen Mission. Wenn es schon keinen polnischen Staat mehr gab, dann sollte die polnische Nation wenigstens auf Notenblättern, Buchseiten und Leinwänden weiter existieren.

Polnischer Triumph, deutsche Niederlage

Dies ist der Kontext, in dem Matejko sein episches Schlachtengemälde schuf. Der Maler hält den Moment fest, als der Grossmeister des Deutschen Ordens im Kampf gegen das polnisch-litauische Heer fällt. In der Mitte hält der Anführer der siegreichen Truppen (ob es sich dabei um den polnischen König Wladyslaw oder den litauischen Grossfürsten Vytautas handelt, ist in der Forschung umstritten) triumphierend sein Schwert in die Höhe. Darüber weht stolz aufgerichtet die Flagge mit dem polnischen Adler, während die Standarte des Deutschen Ordens im Fallen begriffen ist.

Ohne hier auf die konkreten historischen Umstände der Schlacht bei Grunwald einzugehen: Für Matejko und seine Zeitgenossen war diese Schlacht offenbar ein zentrales Moment der polnischen Geschichte. Die Botschaft ist unmissverständlich: Im Jahr 1410 hatten die «Polen» den «Deutschen» (so sah es das 19. Jahrhundert mit seiner modernen Vorstellung von Nationen) eine empfindliche Niederlage zugefügt. Das war Balsam für die Seelen jener Polen, die sich von den Preussen und den anderen Teilungsmächten in ihrem Nationalstolz erniedrigt sahen. Das Gemälde wurde der Öffentlichkeit am 28. September 1878 im Krakauer Rathaus präsentiert und stiess auf begeisterte Reaktionen.

Krakau gehörte zum österreichischen Teilungsgebiet und Wien war relativ tolerant gegenüber der polnischen Nationalbewegung. Matejko jedenfalls machte sich mit diesem Werk unsterblich und wird heute neben dem Schriftsteller Adam Mickiewicz und dem Musiker Fryderyk Chopin als Nationalkünstler gefeiert.

Auf jeder Briefmarke ein Matejko

Der Krakauer Historienmaler schuf neben der Schlacht bei Grunwald noch weitere Werke, welche zentrale Szenen aus der polnischen Geschichte hochstilisiert auf die Leinwand bannen. Seine Bilder haben sich fest in die visuelle Erinnerungskultur der polnischen Gesellschaft eingebrannt: Sie erscheinen in Schulbüchern, auf Ansichtskarten und sogar auf Briefmarken.

Aus historiografischer Perspektive liesse sich einiges an Matejkos Bildern bemängeln, die oft Anachronismen beinhalten und vergangene Ereignisse verfälscht wiedergeben. Doch darum geht es eben gerade nicht: Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive interessant ist der Beitrag dieser Gemälde zum Geschichtsverständnis einer imagined community, die sich ihre eigene (imaginierte) Vergangenheit vergegenwärtigt und dadurch Sinn stiftet. Ein Nationalstaat fällt nicht vom Himmel, er muss gemacht werden. Im Falle Polens hat Matejko die ikonische Blaupause dazu geliefert.

Bild: Jan Matejko, Die Schlacht bei Grunwald (1878). Quelle: Wikimedia Commons

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